Realismus kann auch hinderlich sein

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (21.01.2015)

Salome, 17.01.2015, Bern

Das Theater Bern lässt erneut aufhorchen mit einer gelungenen Produktion von Richard Strauss’ Oper ­«Salome». Die ambitionierte Inszenierung von Ludger Engels schrammt allerdings etwas am Stück vorbei.

Das Berner Dirigentenwunder geht weiter: Es begann mit Mirga Grazinyté-Tyla. Dann kam Kevin John Edusei und verzauberte in der «Ariadne» von Richard Strauss mit intelligentem, differenziertem, dabei immer farben­reichem und musikalisch lebendigem Musiktheater. Wer dachte, das liegt vielleicht an der kammermusikalischen Besetzung der meisterhaft orchestrierten Partitur, konnte den viel versprechenden jungen deutschen Dirigenten jetzt in der üppig besetzten «Salome» im Theater Bern dem Lackmus-Test unterziehen. Und Edusei bestand furios: Er war nämlich ziemlich laut – aber nur dort, wo das diese Partitur auch verlangt. Die Gegensätze machen gutes Musizieren aus, und so erhielt diese Strauss-Partitur immer wieder Kraft aus den zart, leise und dafür intensiv farbenreich ausgestalteten Stellen, die vom Berner Orchester mit viel Delikatesse ausgestaltet wurden.

Das färbte auch auf die Solisten ab. Die britische Sopranistin Allison Oakes sang die Titelrolle und konnte sich auf die reaktionsschnelle Zuverlässigkeit Eduseis verlassen. Ihre Salome kam nie in Nöte, sondern behielt bis zum kräfteraubenden Schlussgesang nicht nur dramatische Intensität, sondern auch saubere Intonation und klangfarblichen Reichtum bei, zudem sorgte ihr gepflegtes, nie ausuferndes Vibrato zusätzlich für sängerische Reize. Claude Eichenberger stattete die Herodias mit einigen hörenswerten fulminanten Zwischen- und Spitzentönen aus, John Uhlenhopp als Herodes blieb dagegen eher in einer soliden Mittellage. Eindrücklich waren viele Linien von Aris Argiris als Jochanaan, aber zu oft verharrte der Grieche an den ultimativen Forte-Rändern seiner Stimme, handicapiert allerdings auch durch den unsäglichen, nur mit ein paar schmalen Luft­löchern ausstaffierten Plexiglaskäfig, in dem er manchmal zu singen hatte – schon mal was von Gitterstäben gehört, Herr Bühnenbildner Ric Schachtebeck?

Archetyp erotischen Begehrens

Die Inszenierung von Ludger Engels versetzt den Palast des Herodes in ein gesichtsloses Herrschaftshaus von heute. Gegessen, getrunken, debattiert, gestritten wird da pausenlos im Hinter- und Vordergrund, die Hausherrin Herodias schmeisst sich fast jedem an den Leib, Herodes ist bedenklich betrunken, mag aber dennoch gerne handfest erotisch zulangen. Objekt seiner Begierde ist die Stieftochter Salome, die nach Mutters Vorbild schon früh gelernt hat, ihre Reize entsprechend einzusetzen. Engels schildert uns eine Familie, die unter öffentlicher Beobachtung steht – vielleicht ein Politiker – und in der Kalkül und Manipulation die Tagesordnung bestimmen. So wächst eine Salome auf, ohne Nestwärme, ohne Zuneigung, ohne Geborgenheit und kopiert die Erwachsenen in ihren Ränkespielen – nur dass ihre Absichten eben ohne Kalkül sind, sondern instinktiv nach dem suchen, was sie vermisst: Liebe.

Die Botschaften der Inszenierung sind klar und konzis – aber sie gehen auch an der Figur vorbei. Die Salome von Richard Strauss (und dem Vorbild von Oscar Wilde) ist ein Archetyp erotischen Begehrens. Die biblische Salome agiert als Instrument ihrer Mutter, die Wild’sche aus eigenem erotischem Antrieb. Die Engel’sche hingegen als missbrauchtes Kind, und da kollidiert die Inszenierung mit der Musik. Sie nimmt Salome die Lust. Sie findet keine Chiffren für die Faszination einer Kindfrau, die bis dahin jeden ihrer Wünsche allein aufgrund ihrer Position und ihrer Ausstrahlung erfüllt sah und nun an einen Mann gerät, der immun dagegen ist.

Mutige Verfremdungen

Immerhin ist Engels konsequent. Denn er gibt auch dem Propheten Jochanaan eine männliche Empfindsamkeit für Salomes Reize: Nur unter Aufbietung allerletzter Willenskräfte kann er sich der Verführung entziehen, nur für ihn letztlich tanzt sie hier ihren Schleiertanz. Das sind mutige Verfremdungen einer Partitur, die eigentlich keine Ungewissheiten lässt. Und deswegen gehen sie auch nicht auf: Der Prophet verschmiert sein Gesicht mit dem Kot aus der Latrine in seinem Käfig, mit diesem Kopf ze­­lebriert Salome ihren Schlussgesang – so viel Fäkalerotik trauen wir dem verzogenen Teenager dann doch nicht zu. Realismus kann auch hinderlich sein. Engels zeigt in seiner sehr genau und detailreich erarbeiteten Inszenierung viele Facetten einer sehr einseitigen Liebesbeziehung – und nimmt ihr gleichzeitig damit die erotische Spannung.