Ist's Traum? Ist's Wirklichkeit?

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (16.02.2015)

Juliette, 14.02.2015, Zürich

Eine bemerkenswerte Tat ist dem Opernhaus Zürich mit der Produktion von «Juliette», der selten gespielten Oper von Bohuslav Martinů, gelungen. Szenisch leichtfüssig, kann sich der Abend musikalisch noch entwickeln.

Eigenartig, was es da zu sehen gibt. Drei ältere Herren etwa, die drei ältere Damen sind. Eine Frau in Rot, leblos am Boden liegend, erschossen von ihrem Geliebten, und in ihrer Rechten hält sie – einen Revolver. Eine hübsche, recht grosse und sauber glänzende Dampflokomotive, die immer wieder über die Bühne fährt – erst recht dann, wenn berichtet wird, dass es in dieser Stadt keinen Bahnhof gebe. Den ganzen Abend über geht es so im Opernhaus Zürich, denn «Juliette», die selten gespielte Oper von Bohuslav Martinů nach einem Schauspiel von Georges Neveux, spielt genau damit. Mit den Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, mit den ganz anderen, scheinbar jeder Logik widersprechenden Gesetzen im Reich der Imagination und den erheiternden Mühen, die realitätsbezogene Menschen, also auch wir alle im Zuschauerraum, damit haben.

Leichte Beweglichkeit

Michel immerhin, Michel hat Glück. Er darf nicht nur einen schmucken Knickerbocker-Anzug tragen, seine Eltern haben ihm auch eine repräsentative, gut bestückte Buchhandlung in Paris vererbt, an der Rue du Chemin Vert, um genau zu sein. Einmal sieht man sie im Original, einmal im Spiegelbild, weil dann die Wendeltreppe, die auf einen kleinen Balkon führt, auf der linken Seite liegt. Und zwischendurch immer wieder diese Häuserfassade mit den geheimnisvollen Türen. So zeigen es die vier Bilder auf der von Christian Schmidt entworfenen und äusserst stimmungsvoll eingerichteten Drehbühne, die es dem Regisseur Andreas Homoki erlaubt, Geschehen, ja Schwung in das an sich handlungsarme Stück zu bringen.

Michel hat aber auch Pech. Er hat keine Frau. Vielmehr: Die Frau seines Lebens existiert nur in seiner Phantasie. Juliette heisst sie, und sie lebt nicht in Verona, sondern in einer namenlosen Stadt am Meer, wo der junge Buchhändler sie zufällig auf einem kleinen Balkon gesehen hat. Das Lied, das seine Julia dort gesungen hat, dieser Romeo hat es nicht vergessen. Darum hat er sich auf die Suche gemacht – im Traum natürlich. Weshalb sich die Buchhandlung sogleich vielfach verwandelt. Sie wird zum Hafen, schiebt sich doch mit einem Mal ein gewaltiger Schiffsbug durch die Eingangstür. Sie wird zum Wald, wie einige plötzlich im Raum stehende, von Franck Evin märchenhaft beleuchtete Nadelbäume andeuten. Und sie belebt sich mit Gestalten aller Art – denen eines gemeinsam ist: Sie haben allesamt ihr Gedächtnis verloren, leben aber fröhlich damit. Nicht ganz unaktuell in diesen Zeiten zunehmender Altersdemenz. Etwas weniger sensibel ist vielleicht der Einfall, den alten Muslim, der in der kleinen Stadt im Süden Frankreichs angeblich das Hotel «Du Navigateur» betreibt, unentwegt mit einem Kopfabschneidermesser herumfuchteln zu lassen.

Fortgang und Ende der Geschichte sind rasch erzählt. Es ist wie in der Wirklichkeit: Die beiden Liebenden begegnen sich und haben alsbald Streit. Aus der Traum. Juliette, Annette Dasch verkörpert es mit Liebreiz und singt aus herrlicher Kehle, möchte in (selbstverständlich nicht vorhandenen) Erinnerungen wühlen. Michel dagegen, es ist Joseph Kaiser, möchte die Geliebte an seine (nur scheinbar reale) Lebenswirklichkeit heranführen – und scheitert damit gründlich, wenn auch in Ehren: Joseph Kaiser lässt idiomatisches Französisch und einen kernigen, sorgfältig gesteuerten Tenor hören. Für ihn spricht auch, dass er sich am Ende für den Traum und gegen die Wirklichkeit entschliesst – wovon man sich als Zuschauer vielleicht eine Scheibe abschneiden kann. Übrigens wird das Stück, 1938 am Prager Nationaltheater in tschechischer Sprache aus der Taufe gehoben, in Zürich in der von Martinů selbst erstellten französischen Version gegeben. Was nicht alle Mitglieder des grossen Ensembles auf der Bühne fruchtbar mitzutragen in der Lage sind.

Praller Ton

Es hat jedoch seine Richtigkeit. «Juliette», angesichts der tiefen Neigung Martinůs zur französischen Kultur kein Wunder, atmet den Geist von «Pelléas et Mélisande». Andreas Homoki weist darauf hin, wenn er Juliette auf dem Balkon ihren roten Schal zu Michel herunterfallen lässt, wie es Mélisande bei Claude Debussy mit ihren Haaren für Pelléas tut. Überhaupt sind viele Bilder der Inszenierung dazu erfunden: über die Vorlage hinaus, weil das Textbuch mit Angaben zum szenischen Geschehen eher geizt, und sinnreich, nämlich aus der Partitur heraus. Das musikalische Bild dieser verdienstvollen Zürcher Produktion gibt sich freilich eher stämmig. Fabio Luisi spricht zwar vom leichten Ton der musikalischen Komödie, am Pult der Philharmonia Zürich tut er jedoch zu wenig dafür. Muskulös klingt das Orchester; farbenreich, das schon, aber an mancher Stelle doch deutlich zu laut. Dass er das Moderne an Martinůs Werk betonen will, etwa die Verbindungen zu Igor Strawinsky, gereicht dem Dirigenten zur Ehre, doch die Verluste im Bereich des impressionistischen Dufts wiegen zu schwer. Gern zu massiv das Blech, zu vordergründig das Glockenspiel, während das Akkordeon, das für Couleur locale sorgte, wiederum weggelassen ist. – An einer bestimmten Stelle hat der Sänger des Michel die Spitze eines französischen Tenors zu erklimmen; es misslingt ihm, weil er instrumental bedrängt ist. Auch sonst stellt sich wenig Konversation ein, dominiert vielmehr die Ästhetik des prallen Tons, die dem Stück widerspricht. Im Ensemble gibt es immerhin manch ansprechende Leistung – zum Beispiel bei Alex Lawrence als Mann mit dem Hut (und in anderen Partien), bei Martin Zysset, der den Beamten im Traumbüro mit glänzendem Tenor versieht, oder bei Irène Friedli als alter Dame. Versteht man die Reihe der nun folgenden sieben Aufführungen bis Anfang März als Prozess, kann sich musikalisch noch Potenzial entfalten.