Tobias Gerosa, Basler Zeitung (16.02.2015)
Das Bedrohliche wird in die Musik verbannt: Andreas Homoki inszeniert Bohuslav Martinus «Juliette» im Opernhaus Zürich
Mal sticht ein Schiffsrumpf in die Bibliothek, mal wachsen da plötzlich Tannen. Und die Bibliothek könnte auch eine Ankunftshalle sein. Oder ein Büro. Sowieso dreht sich der Raum ständig und gibt doch immer wieder dieselben beiden Räume frei: die Halle und eine Fassade mit Balkon, weil beide gibts in Christian Schmidts Bühne für Bohuslav Martinus selten gespielte Oper «Juliette» doppelt.
Es ist eine seltsame Geschichte mit diesem Michel, der Hauptrolle dieser Oper. Er macht sich auf eine Reise, um die Frau zu finden, die er vor drei Jahren unter ihrem Fenster hat singen hören. Doch es passieren ihm weit seltsamere Dinge, als er erwartete. Die Leute um ihn herum haben keine Erinnerungen, und weil Michel sich an ein Gummientchen erinnert, das er als Kind besass, wird er Präsident und lautmalerischer Vorquaker. Aber der Polizist ist Briefträger. Und die gesuchte Frau ist tot. Aber auch nicht, weil Michel seinem gealterten Ich begegnet, das mit der ebenfalls gealterten Frau zusammenlebt. Aber daran erinnert er sich doch gar nicht? Seine Juliette ist eigentliche Projektionsfläche, auch wenn sie ihn dann auslacht. Annette Dasch füllt das mit warmem Sopran und grosser Bühnenpräsenz – wirkt aber etwas unterfordert.
Logisch ergibt die Handlung keinen Sinn, aber das Stück heisst im Untertitel auch «La clé des songes» und folgt einer surrealen Traumlogik. Aufgelöst wird das (etwas schülerhaft) im dritten Akt, wo Michel vom Beamten des Zentralbüros für Träume (Martin Zysset) aufgefordert wird, hier wegzugehen – also aufzuwachen – und seine Juliette zu vergessen. Die Alternative sei, auch zu einem der «Grauen» zu werden, die ohne Erinnerung in ihren Träumen hängengeblieben seien. Traumfrau oder Erwachen? Michel steht vor einer komplizierten Entscheidung. Joseph Kaiser gibt ihn als blassen Buchhalter, untadelig in seiner vokalen Gestaltung und interpretatorisch zunehmend packender.
Homoki setzt auf Naturalismus
Allerdings dauert es bis zu diesem Punkt. Das ist weniger das Problem der Stückdramaturgie und der Musik als der neuen Zürcher Inszenierung. Andreas Homoki setzt auf Naturalismus und bringt nur sehr dosiert verstörende Elemente ein. Das wirkt auf den ersten Blick unaufgeregt sachdienlich, um die Handlung klarzumachen. Aber kann es hier darum gehen? Es dauert bis ins grosse, sich über mehrere Szenen ziehende Duett von Michel und Juliette im zweiten Akt, bis Spannung entsteht.
Im Parlando des ersten Aktes einen Bogen oder Sinn zu erkennen, ist so schwierig – weil es ja keinen im herkömmlichen Sinn gibt. Das müsste eine Inszenierung irgendwie stimmungsmässig ausdrücken, als Bedrohung, als Unsicherheit, als Stimmung wie bei Franz Kafka, an dessen «Process» man im dritten Akt unweigerlich denkt. Doch davon ist bis auf die wiederholte Durchfahrt eine Dampflok und in Zeitlupe agierende Choristen nichts zu sehen. Dass das Französisch durchwegs mehr radebrechend als geschliffen klingt, verbessert den Eindruck auch nicht gerade.
Die Bedrohung findet so nur in der Musik statt, von der Dirigent Fabio Luisi im Programmheft sagt, sie sei ohne Bühne nicht lebensfähig. Luisi lässt die Philharmonia Zürich mit reichen Farben und unerbittlichen Rhythmen aufspielen. Martinu spielt mit Wiederholungen und Motiven, lässt die Musik sich auf eine reine Klavierbegleitung zurückziehen und ballt sie dann als eigentliche Protagonistin so, dass die Sänger im Klang untergehen müssen. «Juliette» wurde 1938 uraufgeführt und atmet den Geist dieser Zeit, wie auch noch kräftig die Spätromantik hineinweht. Auch wenn die inhaltlichen Fragen unbehandelt bleiben: Wie faszinierend diese Mischung musikalisch ist, macht diese Neuproduktion hörbar.