Ohne Erinnerung und Liebe

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (16.02.2015)

Juliette, 14.02.2015, Zürich

Sie handelt vom Vergessen, und sie wurde vergessen: Bohuslav Martinus surrealistische Oper «Juliette». Nun wird sie im Zürcher Opernhaus in einer rundum gelungenen Aufführung rehabilitiert.

Er sei komplett desorientiert, singt ­Michel, und man kann es ihm nicht ­verdenken. Da ist er doch soeben mit dem Zug in einem französischen Städtchen angekommen, und nun behaupten die Bewohner, es gebe hier gar keinen Bahnhof. Der Kommissar ist plötzlich als Briefträger unterwegs und weiss nichts mehr von Michels Verhaftung. Und dann ist da jene junge Frau, in die er sich ­unsterblich verliebt hat, als sie an einem offenen Fenster stand; für sie ist er ins Städtchen zurückgekehrt, und sie empfängt ihn, als hätte sie auf ihn gewartet – aber ihren Namen will sie ihm nicht nennen, «wir sehen uns ja zum ersten Mal».

Später wird er den Namen doch noch erfahren: Juliette heisst sie. Wie offenbar alle Frauen in dieser Stadt. Oder vielleicht sind es gar keine Frauen, ­sondern nur Sehnsuchtsbilder, Traumbilder. So genau weiss man das nicht, man soll es auch nicht wissen in diesem Werk des Tschechen Bohuslav Martinu, das als die erste surrealistische Oper gilt. Uraufgeführt wurde sie 1938 in Prag, als Martinu längst in Paris lebte; und auch wenn sie neben der «Griechischen Passion» als sein Haupt-Bühnenwerk gilt, wird sie kaum je gespielt.

Nun hat Andreas Homoki sie fürs Zürcher Opernhaus inszeniert, und das war eine erste gute Idee. Die zweite war die, das Stück so zu zeigen, wie es gedacht war. Wenn von einem Schiff die Rede ist, sieht man ein Schiff, und dass dieses in eine von Christian Schmidt im Stil der 1930er-Jahre entworfene Buchhandlung ragt, muss einen nicht erstaunen: Der Ort passt, schliesslich ist Michel Buchhändler. Und die Bewohner des Städtchens sind gern hier und suchen in den Bänden das, was ihnen fehlt: Erinnerungen.

Michel hat sie noch. Er weiss zum Beispiel, dass er als Kind eine Spielzeugente besass, die «quak quak» machte. «Quak quak» rufen die Erinnerungslosen in ­ihrer Begeisterung über einen Fetzen Vergangenheit, «quak quak» macht die Musik – und das Premierenpublikum lacht, wie oft an diesem Abend.

Dabei ist das, was hier gezeigt wird, mehr als ein Scherz. «Juliette» verhandelt Fragen, die damals Literaten, Philosophen und Psychologen gleichermassen beschäftigten: Wie funktioniert das Bewusstsein? Wie entsteht Identität? Ist Liebe möglich ohne einen Rahmen von Vergangenheit und Zukunft? Oder auch: Ergibt Musik einen Sinn, wenn man keine Erinnerung hat? Nein, spekulierten Denker wie Henri Bergson; eine Melodie wird nur als solche wahrgenommen, wenn man ihre Entwicklung als Einheit verfolgen kann. Ob Martinu diese Überlegung gekannt hat? Jedenfalls lässt er einen Akkordeonspieler auftreten, der mit seiner Musik die Stadtbewohner zur Verzweiflung bringt: Für sie ist das nur Lärm.

Der Lärm ist Musik

Fürs Publikum dagegen ist es – eine hübsche Pointe – eben doch Musik, schliesslich sitzen wir in der Oper. Und was für eine Musik! Martinu hat darin vieles ­gebündelt, was damals in der Luft lag: die schwebende Melodik Debussys etwa, den treibenden Rhythmus eines Strawinsky, die groteske Leichtigkeit der Groupe des Six um Darius Milhaud und Francis Poulenc. Und Generalmusikdirektor Fabio Luisi bringt das alles mit der Philharmonia Zürich zum Schillern und Pulsieren. Immer wieder wird perkussiver, aggressiver Druck aufgebaut – das Leben ohne Erinnerung ist anstrengend und gefährlich. Dann wieder öffnen sich Räume, ein Fagott schlendert vorbei, ein Klavier hebt ab. Und irgendwann dampft in schönster Lautmalerei ein Zug heran (es gibt ihn eben doch, vielleicht).

Die ganze Ambivalenz des Stücks öffnet sich im Orchestergraben, die Sängerinnen und Sänger müssen sich nur noch hineinstürzen: Allen voran der ­kanadische Tenor Joseph Kaiser, der den Michel gibt – ein starkes Rollendebüt, ein starkes Zürcher Debüt. In Knickerbockern steht er da, verwirrt und verliebt, und seine Stimme wird im Laufe der knapp drei Stunden immer fragender, fragiler. Auch ihm kommen die Erinnerungen abhanden, oder vielleicht will er sie loswerden; es könnte ja immerhin sein, dass er Juliette erschossen hat.

Denn sie hat gelacht über ihn, und Annette Dasch macht das mit der Grausamkeit einer Frau, die nicht weiss, was sie anrichten kann. Rot ist ihr Kleid, rot sind die Lippen, sie kennt die Gesten der Verführung und verwandelt sie mit ­intensivem, zuweilen herbem Sopran in Klang. Als Shakespeares Juliet steht sie auf dem Balkon, als de Sades Juliette weiss sie um die Sehnsüchte der Männer. Sie selber sehnt sich nur nach Erinnerungen, zu gern würde sie welche kaufen beim Händler, der Bilder aus Toledo oder Sevilla anbietet; dass Michel das nicht will, dass er ihr neben einem einzigen Treffen keine gemeinsame Geschichte bieten kann, enttäuscht sie zutiefst.

Ein skurriler Chor

So vielschichtig die Hauptfiguren gezeichnet sind, so differenziert zeigt Homoki die übrigen Beteiligten. Airam Her­nández verwandelt sich ungerührt vom Kommissar in den Briefträger; Reinhard Mayr und Irène Friedli zeigen vielleicht die Zukunft von Michel und Juliette, vielleicht sind sie auch nur irgendein altes Paar; Rebeca Olvera, Judit Kutasi oder Alex Lawrence behaupten trotzig Identitäten, die sie selbst nicht kennen; und der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor ist kein Chor, sondern eine musi­kalisch wie darstellerisch inspirierte Gruppe von skurrilen Individualisten, die am Ende des 2. Akts aufs Schiff steigt und Michel allein zurücklässt.

Hier könnte die Oper zu Ende sein. Aber es folgt noch der dritte Akt, Michel gerät in die Zentralstelle der Träume – und man bangt, dass Martinu das Rätsel seines Stücks auflösen könnte. Er tut es dann doch nicht, aber er muss tief in die dramaturgische Trickkiste greifen, um den vorherigen Schwebezustand zwischen Realität und Traum wiederher­zustellen. Und auch die Zürcher Drehbühne braucht etliche Runden, um zu jenem Ende zu finden, das noch einmal der Anfang ist. Immerhin, es klappt. Und während die Figuren des Stücks zweifellos sofort nach dem letzten Ton vergessen haben, was da eben stattgefunden hat, dürfte sich das lautstark begeisterte Publikum noch lange an einen hinreissend irren Opernabend erinnern.

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Stars und Mythen
Was heisst da Topgagen?

Annette Dasch ist ein Star. Man sieht es daran, dass sie beim Schlussapplaus nach der «Juliette» als Letzte auf die Bühne darf, obwohl Joseph Kaiser die Hauptrolle singt. Man dürfte es auch an ihrer Gage sehen: Stars sind teuer.

Zu teuer? Jedenfalls hat kürzlich im Zürcher Kantonsrat der Grüne Ralf Margreiter einmal mehr den Refrain aller Debatten über Opernhaussubventionen angestimmt: «Wenn die Gagen der Topstars in unermessliche Höhen klettern, muss das Opernhaus da nicht mit­machen.» Es reicht allerdings, das Programm durchzublättern, um zu sehen, dass die Kandidaten für Topgagen (die sich Gerüchten zufolge um die 18 000 Franken pro Abend bewegen) rar sind. Häufiger als früher werden kostengünstige Absolventen des Internationalen Opernstudios eingesetzt (vier in der «Juliette»). Und wo immer man sich umhört: Sängergagen und -löhne sinken. Im Moment macht zwar der starke Frankenkurs dem Opernhaus einen Strich durch die Rechnung; Verträge werden langfristig abgeschlossen, ausländische Sänger profitieren derzeit. Aber das Klettern in unermessliche Höhen ist trotzdem nur noch ein Mythos.