Zwischen Mystery-Thriller, Komödie und Liebesdrama

Elisabeth Feller, Mittelland-Zeitung (16.02.2015)

Juliette, 14.02.2015, Zürich

Eine Wiederentdeckung: Das Zürcher Opernhaus zeigt Bohuslav Martinus wunderselten gespielte Oper «Juliette»

An was entzündet sich die Fantasie besonders? Am Buch. Vielmehr an seinen Geschichten, die es birgt. Michel ist Buchhändler, hat also viele Geschichten in seinem Gedächtnis gespeichert. Aber nicht nur gelesene, sondern auch erfahrene. Dazu zählt die Begegnung mit einer jungen Frau. Die Suche nach ihr treibt ihn nach drei Jahren zurück in eine kleine Hafenstadt. Seltsam bloss, dass sich dort niemand erinnern kann – weder an das Hôtel du Navigateur noch an Personen. Kurz: Alle haben das Gedächtnis verloren: auch Juliette? Michel sucht und verliert die Geliebte; glaubt sie nach einem Streit erschossen zu haben, bis ihn am Ende ihre zarte Stimme lockt: «Michel! Michel! Michel!» Er betritt den Raum, wo sie ihn erwartet, und weiss sogleich, dass er nie mehr zurückkann – in die Realität. Michel wird von nun an in seinen Träumen gefangen sein – wie es Juliette schon längst ist.

In erster Linie ein Traumspiel

Nach alledem: Was ist «Juliette»? Eine Tragödie, Komödie oder Tragikomödie nach dem gleichnamigen Theaterstück von Georges Neveux? Für den tschechischen Komponisten Bohuslav Martinu ist das 1936/37 in Paris komponierte Werk eine Opéra lyrique; vielmehr ein Traumspiel, das Unbewusstes mit Absurdem und Fantastischem vereint. Und das mittels einer Tonsprache, die ihre slawischen Wurzeln nie verleugnet. Aber: Die dunklen, von massigem Blech und akzentuierendem Schlagwerk bestimmten Klänge oszillieren mit solchen, die an Debussy erinnern. Und mitunter liegt selbst das Chanson nahe. Vor allem dann, wenn – dies eine Besonderheit von «Juliette» – einzelne Arien oder Duette nur vom Klavier begleitet werden. Das ist ungewohnt, unterläuft Hörerwartungen – und ist gerade deshalb spannend. Wie Fabio Luisi und das Orchester Martinus ambivalente Klang- und Ausdrucksvaleurs formen, ist fesselnd – und genau dies ist auch Regisseur Andreas Homokis Inszenierung

Seine Lesart von «Juliette» bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Mystery-Thriller, Komödie und Liebesdrama. Christian Schmidt hat dazu eine Rundbühne mit verschiedenen Schauplätzen gebaut. Das eine, grossbürgerlich wirkende Interieur verweist mit seinen vielen Bücherwänden auf Michels Beruf und damit auf das Reich der Fantasie und der Träume. Dazu passt, dass sich beim Öffnen der hinteren Türe ein riesiger Schiffsbug in den Raum schiebt oder, nachdem sich die Bühne gedreht hat, eine Lokomotive heranrollt oder der Raum plötzlich mit Tannen bepflanzt ist. Immer wieder geht es zum Ausgangspunkt zurück: dem angeblich nicht vorhandenen Hôtel du Navigateur. Michel vermutet Geheimnisse hinter dessen Tür. Geheimnisvoll ist auch die weisshaarige Dame in Rot, die auf dem Balkon erscheint. Ist sie etwa die gealterte Juliette, die ebenfalls ein rotes Kleid trägt?

Widerstreitende Gefühle

Die mysteriösen und skurrilen Begebenheiten reissen nicht ab, was Homoki immer wieder in witzige, temporeiche Gruppenszenen fasst. Dann dürfen die Augen aller noch verwunderter blicken; dann werden die Bewegungen marionettenhafter. Einer passt nicht in diese Gesellschaft der Gedächtnislosen: Michel. Der Kanadier Joseph Kaiser – in Knickerbockers und mit Schirmmütze – gibt den Buchhändler als sensiblen Mann im Strudel widerstreitender Gefühle. Die Partie verlangt ihm sehr viel ab: grossbogige Kantilenen sowie reaktionsschnelles Changieren zwischen Deklamation und rezitativischem Singen. Kaiser meistert die Aufgabe bravourös mit einer schlanken Tenorstimme, die über unangestrengte Forte-Strahlkraft verfügt. Juliette ist die Sopranistin Annette Dasch; eine Sängerin, die wunderbare Legato-Kultur, aparte, ausgefeilte Klangfarben sowie schauspielerische Stärken in die Waagschale legen kann. Die Genannten sowie das Ensemble runden den vorzüglichen Eindruck einer Inszenierung ab, die mit Bohuslav Martinus «Juliette» eine Perle gehoben hat.