Jenny Berg, TagesWoche Online (15.02.2015)
Christof Loy hat Richard Strauss' Oper Daphne aus der verstaubten Ecke des verkannten Meisterstücks geholt und am Theater Basel eine subtile Neudeutung gewagt.
Schon in den ersten Sekunden dieser Inszenierung wird klar: Hier geht es um Sex. Verschwitzte Fischer entkleiden sich, zeigen Fleisch und eindeutige Gesten, flirten mit den Serviertöchtern. Die Bühne (Annette Kurz) ist eng; ein Bretterverschlag trennt den hinteren Bühnenteil ab. Es gibt kaum Platz, dem Treiben auszuweichen, und das ist für Daphne ein Problem.
Daphne (die Riesen-Partie bravourös mit farbig-strahlendem Sopran meisternd: Agneta Eichenholz), in brave Schulmädchenuniform gekleidet (Kostüme: Ursula Renzenbrink), ist die Tochter des Fischers, dessen Arbeiter hier so lüstern auf den Beginn des Fruchtbarkeitsfestes warten. Und Daphne ist anders. Sie fühlt sich fremd unter den Menschen, flüchtet sich in die Welt der Bäume. Wie sie möchte sie sein, ihre Schwester. Sie besingt das Grün und meint, ohne es zu wissen, die reine Asexualität.
Brüderliche und schwesterliche Liebe beschwört sie auch gegenüber ihrem Freund aus Kindertagen, Leukippos (mit leidenschaftlichem Tenor: Rolf Romei), der nun ein Mann ist und sie als Frau begehrt. Daphne weist ihn brüsk zurück. Ihre Mutter erscheint (mit würdevoll tiefem Alt: Hanna Schwarz), mahnt, sich nicht vor den Gesetzen des Lebens zu verschliessen – erst recht nicht am Tag des Fruchtbarkeitsfestes.
Schnaps, die Bibel
Dass sie ihr ganz eigenes Requisit, eine Schnapsflasche samt Glas, stets bei sich trägt wie ein Pfarrer die Bibel, zeigt, dass auch sie sich die raue Männerwelt ertragbar trinken muss. Das Wegschauen und Wegträumen der Mutter lebt in der Tochter weiter.
Bis zu diesem Punkt decken sich Christof Loys Inszenierung und das Libretto von Joseph Gregor, das Richard Strauss 1938 in süffig süsse Töne gesetzt hat – und dessen psychologisch deutendes Wechselbad zwischen lichtdurchfluteten, schwülen, hitzigen und brutalen Klängen das Sinfonieorchester Basel unter Hans Drewanz ganz meisterhaft umsetzt.
Ein heranwachsendes Mädchen möchte nicht erwachsen werden; verständlich. Daphnes Naturverbundenheit ist reizend, und so erscheint der Fortgang der Oper nur logisch: Nachdem Daphne auch den Lichtgott Apoll (mit prachtvollem Tenor: Marco Jentzsch) zurückweist, als sie dessen männliches Begehren spürt, und sich wieder ihrem Jugendfreund Leukippos zuwendet, wird dieser vom eifersüchtigen Apoll getötet. Apoll erkennt seine Schuld und verwandelt Daphne in einen immergrünen Baum. Daphnes Wunsch geht in Erfüllung: Sie ist eins mit der Natur. Soweit das Libretto.
Neuzeitliche, aber subtil
Doch Christof Loy geht weiter und füllt die rätselhafte Naturromantik mit Sinn: Er zeigt Daphnes Ablehnung der Männerwelt als Reaktion auf frühen, andauernden sexuellen Missbrauch.
Seine Andeutungen sind subtil. Wer in der entscheidenden Szene, als sich Daphne zum Schlafen neben die Topfpflanzen legen will und dabei vom Vater liebevoll zugedeckt – und unter der Decke befummelt – wird, verpasst hat, wird weiter nach der Sinnhaftigkeit dieses Stückes suchen.
Doch es gibt auch andere Zeichen: All die sexuell aufgeladenen Gesten rund um das Fest, bei denen Daphne zwischen hündisch umherkriechenden Halbnackten den Fischern (dem stimmgewaltigen und spielfreudigen Männerchor des Theater Basels) weitere Kleidungsstücke vom Leib reissen muss. Ein scheinbar vertrautes, sich rituell wiederholendes, aber um so grausameres Spiel.
Oder der sich als Daphnes Ebenbild verkleidete Leukippos, der sich ihr als keusche Zwillingsschwester nähert, um seine Manneslust dann doch zu offenbaren – keine Familienbande sind vor dem sexuellen Übergriff sicher.
Traum und Wirklichkeit
Schliesslich gipfelt Loys Inszenierung in der Umdeutung: Das Opfer wird zu Täterin. Nicht Apollo, sondern die von ihm geschubste Daphne tötet Leukippos. Stellvertretend muss Leukippos sterben, stellvertretend für alle, die sich an Daphne vergangen haben.
Dann wird Daphne nicht in einen Baum verwandelt – sondern von der Polizei abgeführt. Das ist mutig und konsequent, genauso wie das signifikante Fehlen von Bäumen auf der Bühne. In einer Oper, in der der Baum das wohl am meisten besungene Wort ist, nur mickrige Topfpflanzen zu zeigen, macht deutlich, wie oft Traum und Wirklichkeit schmerzvoll auseinanderklaffen.
Dass in der Mitte der Oper, als sich der schmale Bretterverschlag nach hinten zur grossen Bühne hin öffnet, wiederholt das Publikum geblendet wird – man kennt dies schon aus Loys letzten Sandmann-Inszenierung am Theater Basel –, da wird die sonst so zurückhaltend diffizile Inszenierung auf einmal laut. Fast so, als wolle der Regisseur rufen: Schaut in euren eigenen Reihen, in euren eigenen Familien! Dieses Drama passiert, es ist allgegenwärtig!
Diese Blendung ist ein unbequemer Angriff auf die Autonomie des Zuschauers, und doch ist es genau das, weshalb man ins (Musik-)Theater geht: Man wird herausgerissen aus der Komfort-Zone der roten Plüschsessel und mit der eigenen Verletzlichkeit konfrontiert. Sinnlicher, subtiler und klangschöner als in dieser Inszenierung kann man das eigene nackte Menschsein in seiner Ambivalenz fast nicht begreifen.
Lang anhaltender Applaus für das gesamte Team.