Strauss’ «Daphne» als Geschichte eines Missbrauchs

Tom Hellat, Tages-Anzeiger (16.02.2015)

Daphne, 13.02.2015, Basel

Diese Szene erklärt alles: Da zieht eine Horde Männer bei einem Saufgelage über Daphne her. Sämtlich notgeile Triebkasper in bayrischer Tracht, die es gerne mit den aufgebrezelten Dirndlfrauen treiben würden. Zum rauschenden Fest müssen einige von ihnen gar an die Leine, wie Hunde voller Wahnsinn und Geilheit, rollige Tiere, die wie angestochen dorthin rennen, wohin ihr Trieb sie zwingt. Daphne dreht sich im Kreis, muss den Männern die Hemden oder Unterhosen vom Leib reissen und knallt sie wild auf den ­Boden; man begrapscht, betatscht und bezüngelt sie. Alles Weitere ist klar. Hier geht es nicht um eine bukolische Hirtengeschichte, wie es der Untertitel von ­Richard Strauss‘ Oper «Daphne» suggeriert, sondern um den Missbrauch einer Frau. So sieht es der Regisseur Christof Loy in seiner Basler Inszenierung.

Eine obszöne Lesart. Aber eine, die Ernst macht mit der Geschichte von Daphne. Um die papierenen Librettoverse schert Loy sich herzlich wenig. Das Klischee-Arkadien, die «dichten Ölbaum­grup­pen» und, ach, die «letzte Sonne» hinter dem Olymp, sie sind ihm und seiner Bühnenbildnerin Annette Kurz bestenfalls ein paar stechende Lichtquellen vor einem plumpen Bretterverschlag wert. Hingegen nimmt die Regie das ernst, was Strauss in dieser Oper hinter der Hirtenfassade eigentlich erzählt. Das Herdengeläut zu Beginn etwa, jene akustische Mauerschau, wird sofort entlarvt: Wo der Vater der Tochter unter den Rock greift, da führt sich alles idyllisch Arkadische ganz von selbst ad absurdum.

Auch in der Musik. Was hier an verstörender Kraft heraufbeschworen wird, das demonstriert das grandios disponierte Sinfonieorchester Basel unter der Leitung des 85-jährigen Dirigenten Hans Drewanz auf packende Art. Die Musiker gestikulieren sich durch expressive Kühnheiten, verweisen auf die mal ­silbernen, mal derben Klangfarben, auf das reiche Rankwerk der Partitur – und auch die Solisten fügen sich wunderbar in dieses Treiben ein. Rolf Romei ist ein hingebungsvoller Leukippos, Hanna Schwarz eine charakteristisch dunkle Gaea und Thorsten Grümbel ein eindrücklich biederer Peneios. Aber vor ­allem Agneta Eichenholz‘ strahlende Höhen, ihr bewunderungswürdiges Klangvolumen, und nicht zuletzt die physische Unbedingtheit, mit der sie sich auf die Rolle der Baumnymphe Daphne einlässt, verleihen dieser Oper eine existenzielle Glaubwürdigkeit, die durch Mark und Bein geht.

Auch Marco Jentzsch besitzt den erforderlichen tenoralen Glanz, um die Monsterpartie des Apoll glühen zu lassen. In Basel entpuppt sich selbst dieser Gott, der vornehme Fremde, als ein Mann wie jeder andere auch. Ein Unterleibhaftiger in trüb geiferndem Aufruhr, der es letztlich auch nur auf Daphnes Unterwäsche abgesehen hat. Jede Liebe wird so für sie zur ekligen und klebrigen «Liebäh!», jedes Gefühl zu Gewalt, jedes Begehren zu Lust. Was bleibt, ist eine ganz neue Sichtweise auf Strauss’ «Daphne», und für das Publikum ein ­beklemmendes Gefühl im Bauch.