Leuchtschrift und Kerzenlicht

Felix Michel, Neue Zürcher Zeitung (02.03.2015)

La Bohème, 27.02.2015, Luzern

Giacomo Puccinis Oper «La Bohème» im Luzerner Theater

Mit seinem ausgezeichneten Ensemble wagt es das Luzerner Theater, wenig zu wagen. Bei «La Bohème» funktioniert das darum, weil Puccini ein ausgekochter Theaterperfektionist war – dem man sogar noch konsequenter hätte folgen können.

In Luzern gibt es eine «Bohème» zu sehen, wie sie im Buche steht – und zwar in jenem Buch, das sich Partitur nennt. Bei diesem Werk, dessen ökonomische Zugkraft kaum ein Haus durch Regie-Dekonstruktionen zu mindern wagt, ist das zwar nichts Ungewöhnliches; im Luzerner Theater geschieht es aber mit beachtlicher Konsequenz. Dass Achim Thorwalds Inszenierung die Handlung in die Entstehungszeit der Oper verlegt (beziehungsweise in eine historisch diffuse Epoche, wo Juli-Monarchie und Eiffelturm, Leuchtschrift und Kerzenlicht koexistieren), ist fast der einzige grössere Eingriff – und er hat immerhin den schönen Nebeneffekt, dass er wunderbare Kostüme aus den 1890er Jahren auf die von Christian Floeren gestaltete Bühne zaubert. Sonst aber folgt Thorwald – bis hin zum Detail des langsam fallenden Schlussvorhangs – weitgehend Giacomo Puccinis minuziösen Aufführungsvorschriften, die ihren despotischen Perfektionismus mit demjenigen von Puccinis Generationskollegen Gustav Mahler teilen.

Sängerschauspieler ohne Arme

Und diese pragmatische Demut tut durchaus Wirkung – etwa beim ersten Kuss, der präzis dort erfolgt, wo sich die Harmonik zu einer dieser übermässigen Akkordbildungen spannt, mit denen Puccini dem Begehren wie kein Zweiter musikalische Überzeugungskraft zu verleihen weiss. Warum dann aber nicht auch mehr Mut zum Beleuchtungseffekt, wenn helles Mondlicht Mimì verklären sollte? Vielleicht aus Scheu vor der seltsam erscheinenden Idealisierung dieser «femme fragile», die mit der Lesart konfligiert, aus einem «Realismus» Puccinis dessen «Modernität» herzuleiten. Puccinis Frauenbild ist nun aber einmal ein historisches (und problematisches). Bliebe die Inszenierung hier ganz bei der Vorlage, beliesse sie so zugleich alles Fragwürdige in deren Verantwortung. Die andere Frauenfigur hingegen überzeichnet Thorwald und erweist so Carla Maffioletti einen Bärendienst: Ihre Musetta ist als tief décolletiertes Püppchen angelegt; entsprechend ratlos schwankt die Darstellerin zwischen Operette, Parodie und Rollenzeichnung. Das lässt ihr wenig Raum zur Entfaltung, weshalb die Figur wenig plausibel bleibt.

Rodolfo plausibel zu gestalten, ist ebenfalls kein Leichtes. Stimmlich tut das der höhensichere Tenor Carlo Jung-Heyk Cho weitaus besser als darstellerisch: Kann man, ohne seine Arme zu bewegen, ein differenzierter Sängerschauspieler – geschweige denn ein überzeugender Liebhaber – sein? Den Ohren ist er beides; die gelegentlich eingebauten Schluchzer hätte er dazu gar nicht nötig. Todd Boyce verleiht seinen elegant-kräftigen Bariton Rodolfos weniger sentimentalem Künstlerfreund Marcello, den er mit höchst attraktiver Nonchalance verkörpert. Beide Sänger entstammen dem spielfreudigen, charakterlich vielfältigen und dabei ausgeglichen qualitätvollen Hausensemble, wie überhaupt fast alle Rollen aus dem Ensemble und dem Chor besetzt sind. Ausgezeichnet auch die Luzerner Mädchenkantorei und die Sängerknaben, die Eberhard Rex vorbereitet hat.

Silberglattes Legato

Dass sich das Luzerner Sinfonieorchester in bester Verfassung befindet, ist längst keine Überraschung mehr. Unter dem Ersten Kapellmeister Boris Schäfer füllt es die nicht eben entgegenkommende Akustik des kleinen Luzerner Stadttheaters mit farbenreichem Samtklang, ohne die Stimmen je zu überdecken. Zwar glückt der Regie nicht alles; im Finale des zweiten Bildes etwa erklingt die aufziehende Wachkapelle via Lautsprecher, entsprechend wenig natürliche Bewegung herrscht auf der Bühne, und das szenische Timing beim turbulenten Abgang der Bohémiens misslingt. Aber über den Erfolg einer «Bohème»-Produktion entscheidet ja am Ende – wie stets bei Puccini – massgeblich die zentrale Sopranistin. Und ja: Jutta Maria Böhnert gibt ihrer Mimì alles, was diese Figur braucht: psychologische Plausibilität und (besonders bei der Szene im «Café Momus») schauspielerische Tiefe, sängerische Charakterdarstellung statt rührseligem Realismus, dazu eine nuancierte Klangpalette, die auch leise Zwischentöne und silberglattes Legato umfasst.