Sigfried Schibli, Basler Zeitung (02.03.2015)
Giacomo Puccinis Oper «La Bohème» ohne szenische Wagnisse in Luzern
Der Luzerner Theaterdirektor Dominique Mentha (59) ist nur noch ein gutes Jahr in diesem Amt, dann folgt ihm der deutsche Regisseur Benedikt von Peter nach. Natürlich ist es noch viel zu früh für eine Bilanz von Menthas elfjährigem Wirken in der Leuchtenstadt. Aber eines darf man sicher sagen: Er hat an dem kleinen, immer etwas im Schatten des prunkvollen KKL und des Lucerne Festival stehenden Haus ein Opernensemble auf die Beine gestellt, das alle Bewunderung verdient.
Jüngster Leistungsbeweis ist die Puccini-Oper «La Bohème», von der ja mancher Musikfreund sagt, dass es da auf die Inszenierung nicht so sehr ankomme, Hauptsache seien die Sängerleistungen.
Schneeflocken sonder Zahl
Haken wir das Szenische (Inszenierung: Achim Thorwald, Bühne: Christian Floeren) daher kurz ab: Konventionell bis zum Gehtnichtmehr, mitsamt obligatem Bett und Ofen in der Pariser Dachwohnung der vier Bohémiens Rodolfo, Marcello, Colline und Schaunard; eine Pariser Strassenszene im zweiten Bild mit dem Café Momus und von Fall zu Fall Schneeflocken sonder Zahl.
Dies alles verbunden mit einer routinierten, niemals überraschenden Personenführung und zeittypischen Kostümen, durchaus gekonnt in der Chorregie (Kinderchor!) und an die Grenzen des Machbaren stossend bei den Protagonisten, die bisweilen doch ein wenig steif wirken. Am schönsten ist vielleicht die Szene im dritten Bild, als Colline und Musetta sich wild gestikulierend streiten, während Rodolfo und Mimì am Bühnenrand sitzend das Ende ihrer Beziehung einläuten. Zwei Paare im Zustand der Auflösung.
Die Stimmen sind fast alle aus dem Ensemble besetzt, und da reibt man sich schon ein wenig die Augen beziehungsweise die Ohren. Die weibliche Hauptfigur Mimì wird von Jutta Maria Böhnert mit warmem, sattem, stabil sitzendem Sopran und einer perfekten Atemkontrolle verkörpert, die lange vokale Bögen ermöglicht. Dazu ein glaubwürdiges, nicht übertrieben die Hinfälligkeit dieser zugleich anziehenden wie bemitleidenswerten Figur betonendes Spiel – die würdevolle Sterbeszene im vierten Bild ist auch so bewegend.
Im tenoralen Oberstübchen
An ihrer Seite steht mit dem südkoreanischen Tenor Carlo Jung-Heyk Cho ein Rodolfo, der über unerschöpfliche vokale Reserven zu verfügen scheint und die Intonation bis hinauf ins tenorale Dachgeschoss sicher im Griff hat. Dass er das Lyrische zurückhält zugunsten der vokalen Expressivität, muss man ihm nicht vorwerfen – er gestaltet eben einen Liebhaber ohne Scheu vor starken Emotionen.
Glänzend besetzt ist auch der stimmkräftige Colline des Baritons Todd Boyce, während die Musetta von Carla Maggioletti mit ihrer etwas dünnen Stimme (aber hübschen Quiektönen!) davon profitiert, dass das Luzerner Theater ein eher kleines Haus ist. Die Banda im zweiten Bild kommt ab Konserve, aber das Luzerner Sinfonieorchester im Graben ist echt und spielt unter seinem jungen Kapellmeister Boris Schäfer engagiert, klangschön und bis auf einige Wackler im dritten Bild auch gut koordiniert.
Dass Luzern eine Hochburg qualifizierter Chorsänger (auch Kinderchorsänger) ist, konnte dem kritischen Ohr an der frenetisch bejubelten Premiere am Freitagabend im voll besetzten Luzerner Theater ebenfalls schwerlich entgehen.