Lieber träumen als aufwachen

Oliver Schneider, DrehPunktKultur (18.02.2015)

Juliette, 14.02.2015, Zürich

Selten begegnet man Bohuslav Martinůs „Juliette“. – Ein Buchhändler aus Paris reist in eine Kleinstadt ans Meer, um eine Frau wiederzufinden, der er vor drei Jahren begegnet ist. Er trifft Juliette auch, aber wie alle Einwohner der Stadt besitzt sie nur ein Kurzzeitgedächtnis von zehn Minuten.

So erlebt Michel in dieser Stadt, in der Traum und Wirklichkeit verschwimmen, Groteskes. Andreas Homoki und sein Ausstatter Christian Schmidt haben in ihrer Neuinszenierung von Bohuslav Martinůs „Juliette“ am Opernhaus Zürich für diese surreale Welt ideale Bilder gefunden. Sie lassen den Abend auf einer Drehbühne in einer Bibliothek und vor einer Häuserfront spielen. Die Bibliothek steht für Michels Beruf – er hat in Paris von seinen Eltern eine Buchhandlung geerbt – und für die Welt der Erinnerungen, die den Bewohnern der Stadt fehlen und die den Fundus für Michels und unsere Träume bilden.

Dass die Stadt am Meer liegt, nimmt das Regieteam auf und lässt immer wieder den gewaltigen Bug eines Dampfers in die Bibliothek ragen. Der Polizeikommissar macht Michel als Mensch mit Erinnerungen gleich zum Kapitän; der Kommissar selbst hingegen vergisst seinen Beruf immer wieder. Später gibt er sich mal als Waldhüter, Lokomotivführer, Nachtwächter oder Briefträger aus, der drei Jahre alte Briefe austrägt. Michel ist mit dem Zug in die Stadt gereist, aber einen Bahnhof gibt es nicht und doch fährt immer wieder eine Dampflokomotive durch die Bibliothek.

Selbst ohne Erinnerungen, möchte Juliette von Michel Geschichten aus der gemeinsamen Vergangenheit hören, die es gar nicht gibt. Michel will viel lieber über Zukunftspläne mit ihr reden, doch das langweilt sie. Und immer wieder begegnen ihm im Laufe des Abends, der nach der Pause einige Längen hat, auch sein und Juliettes Spiegelbilder – nur dass sie bereits ergraut sind.

Im dritten und letzten Akt steht Michel in der leeren Bibliothek: Alle Erinnerungen und Träume sind verschwunden. In der Zentralstelle der Träume muss er sich entscheiden, ob er aufwachen oder weiterträumen will. Michel entscheidet sich fürs Träumen, denn so kann er seiner Juliette wiederbegegnen.

Homoki animiert das hervorragende Zürcher Ensemble, ergänzt um Joseph Kaiser als Michel und Annette Dasch als kapriziöse Juliette, zu natürlich-lebendigem Spielen, so dass Traum und Wirklichkeit immer mehr verschwimmen. Bühnenbilder und die eleganten Kostüme verorten die Handlung in der Entstehungszeit und sorgen damit genau wie die sich permanent drehende Bühne für die Distanz, die die surreale Welt auf der Bühne benötigt.

Bohuslav Martinů komponierte seine selten aufgeführte „Juliette“ 1936/7 nach dem gleichnamigen Theaterstück von Georges Neveux in Paris, wo er seit 1923 lebte. In Zürich steht das Werk seit letztem Samstag erstmalig auf der Bühne und zwar in der französischen Fassung basierend auf dem Originaltext, die der schwerkranke Martinů kurz vor seinem Tod 1959 in Basel noch erstellte.

Fabio Luisi und die Philharmonia Zürich sorgen für einen plastisch-runden Gesamtklang, der den slawischen Hintergrund mehr betont als das an Claude Debussy erinnernde atmosphärische Farbenspiel. Ihnen gelingt es in jedem Fall, eine ausgewogene und sängerfreundliche Klangbasis für die Solisten zu legen. Joseph Kaiser gefällt als Michel mit seinem charaktervollen Tenor und einer reichen Palette an Zwischentönen, Annette Dasch gibt seine Angebetete mit schlicht-berührendem Tonfall und glockig leichter Stimme. Die weiteren Partien sind zum Teil mit Mitgliedern des hauseigenen Opernstudios besetzt: Vielversprechend sind der Spanier Airam Hernandez vor allem als Kommissar und Briefträger sowie die junge chinesische Mezzosopranistin Lin Shi als kleiner Araber und junger Matrose.