Tobias Gerber, Neue Zürcher Zeitung (10.03.2015)
Christian Josts Oper «Rote Laterne» in Zürich
Aus dem Brunnen kommt sie, und dorthin steigt sie am Ende wieder hinab: Song-Lian, seit kurzem als «vierte Herrin» auf dem Anwesen des Master Chen eingezogen. Von familiären und wirtschaftlichen Nöten getrieben, liess sie sich mit dem Patriarchen vermählen und trat so in einen sozialen Mikrokosmos ein, in dem Liebe und Lust nur als Bestandteil des Strebens und des Machterhalts existieren. In der eisernen Hierarchie der traditionellen Familienstruktur begegnet Song-Lian, die ihren Status anfänglich durch diese Ordnung gesichert glaubt, einem undurchschaubaren und gnadenlosen Spiel von Intrigen und Doppelzüngigkeit, an dem sei schliesslich zerbricht.
Der Stoff der «Roten Laterne», den der Komponist Christian Jost als sein eigener Librettist für das Opernhaus Zürich bearbeitet hat, feierte in den frühen neunziger Jahren in der gleichnamigen Filmadaption des Chinesischen Regisseurs Zhang Yimou im Westen grosse Erfolge. Anders als Yimou, der in der labyrinthischen Architektur von Master Chens Reich ein gesellschaftlich bedingtes Gefüge von Status und Macht ansiedelt, zeichnet Jost in seiner «Roten Laterne» eine Gesellschaft, deren scheinbar der Zeit enthobene Verhältnisse sich weniger der über Generationen aufrechterhaltenen Tradition verdanken als viel eher einem Schicksal, das sich der Gestaltung durch den Menschen entzieht. Steigt Song-Lian zu Beginn des Stückes aus dem Dunkel des Brunnenschachts hervor, so schliesst sich mit dem selbstmörderischen Gang in den Brunnen als schicksalshafte Konsequenz am Ende des Stücks ein Kreis, in dem die Linearität der Zeit durchbrochen ist, in dem die Erinnerung an den Tod des Vaters zeichenhaft die Gegenwart mitbestimmt und in dem Song-Lian sich immer wieder zu jenem Brunnen hingezogen fühlt, auf dessen Grund sie ihr eigenes Antlitz gesehen zu haben glaubt. Es sind Zwischenbereiche, die Jost in seiner «Roten Laterne» interessieren, Bereiche, in denen die Grenzen zwischen Realität und Traum, Leben und Tod unscharf werden.
Gefängnis ist diese Welt darum nicht weniger, im Gegenteil. Das wird in der Zürcher Uraufführung der «Roten Laterne» in der Inszenierung von Nadja Loschky schon mit dem Bühnenbild (Reinhard von der Thannen) klargemacht: Ein gegen alle Seiten mit schwerem Gemäuer abgeschlossener Raum, der sich nur dadurch verändert, dass er durch zusätzliche, von der Seite eingeschobene Wände in einzelne kleinere Räume unterteilt wird. Ein Aussen gibt es nicht, nur Konstellationen verschiedener «Innenräume», die Möglichkeiten eines Rückzugs aus der Gesellschaft versprechen, gleichzeitig aber die einzelnen intriganten Zellen im Netz des Familienverbandes widerspiegeln.
In der Musik Christian Josts begegnet man einer ähnlichen Architektur. Aus wiederholten, sich leicht verändernden Figuren baut er musikalische Zustände, in denen sich aus dem Nebeneinander von repetitiver Statik und rhythmischem Drive eine spanungsgeladene Potentialität entwickelt, die das Publikum fast fordernd zu fragen scheint: «Und – was passiert wohl als Nächstes?». Man merkt schnell: Jost ist ein lustvoller Erzähler, der Spannung aufzubauen und Atmosphären schaffen kann und der mit feinem dramaturgischem Gespür weiss, wann er einen Bruch vollziehen muss, um einen Schritt weiterzukommen: Aus einem knöchrigen Schlagzeug-Pattern kann überraschend ein schmerzlich-süsses Streichertutti hervorbrechen, um sich nach kurzer Zeit perkussiv in die wiederkehrende rhythmische Textur einzufügen.
Die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Alain Altinoglu musiziert dabei mit scharfer Rhythmik und vollem Klang. Zuweilen möchte man Jost in seinem erzählerischen Engagement etwas zurückhalten. Der instrumentale Part tendiert dazu, eher zu viel andeuten, ausgestalten und untermalen zu wollen. Sind Libretto und szenische Ausgestaltung um Mehrdeutigkeit bemüht, so bleibt die Musik – zwar wendig und packend – weitgehend einem recht linearen narrativen Strang verpflichtet. Vielleicht, weil der Erzähler selber etwas fiebrig wird angesichts des Erzählten? Oder weil er der Imaginationsfähigkeit des Publikums nicht restlos vertraut?
Dies wäre nicht nötig, vor allem auch, wenn man die grösstenteils hervorragend besetzten Rollen bedenkt, insbesondere in den Frauenstimmen. Liliana Nikiteanus Mezzosopran verleiht der ersten Herrin jene Zweischneidigkeit, die ihrem Charakter als warm-mütterlicher Figur, der nicht zu trauen ist, entspricht. Komplexer sind die Figuren der zweiten und dritten Herrin. Nora Gubisch als zweite Herrin lässt die anfänglich gespielte Zuneigung zu Song-Lian im Verlauf des Stücks in offene Feindschaft umkippen. Die Abgründigkeit dieser Figur wird bei Gubisch greifbar durch feine Modellierungen im sprachlichen Duktus.
Die beiden Sopranistinnen Shelley Jackson und Claudia Boyle beeindrucken als vierte und dritte Herrin. Ihr Verhältnis ist widersprüchlich, und die beiden Sängerinnen verstehen es, Nähe und Distanziertheit in ihrer komplexen Beziehung rein stimmlich zu markieren. Teils im Einklang mit der vierten, findet die dritte Herrin zu einem leicht helleren Klang, löst sich aus der Innigkeit und wird zur undurchsichtigen, orakelhaften Gestalt. Etwas einfältiger sind die männlichen Rollen geraten. Rod Gilfry als Master Chen agiert als Bariton solide, in der szenischen Aktion wirkt er etwas hölzern. Das korreliert freilich mit seiner Figur, vermag ihr aber kaum überraschende Seiten zu entlocken. Auch Fay-Pu, Master Chens Sohn bleibt als Charakter etwas einfältig, was sicher auch an der klischeehaften Konzeption der Rolle als ein lieber, aber der Liebe zu Frauen nicht fähiger Mann liegt. Sein heller Tenor sorgt immerhin für etwas Licht in dieser sonst so finsteren Welt.