Tom Hellat, Tages-Anzeiger (10.03.2015)
Christian Josts Auftragswerk «Rote Laterne» überzeugt bei seiner Uraufführung in Zürichs Opernhaus mit einem wunderbaren Sängerinnen-Ensemble. Stück und Inszenierung leiden aber unter allzu viel Melodramatik.
Schon der Bühnenbau zeigt, wie hoffnungslos unerbaulich das ist, was uns erwartet: drei grosse graue Mauern und kein Ausblick. Darin eingeschlossen die Bewohner des Hauses, eine Voodoopuppe, zwei Marionetten und sieben ausgemergelte Wesen in schwarzen Tüllröckchen, die einmal Männer gewesen sein müssten. Sie sind die Hausgeister und irren durch die neue Oper «Rote Laterne» des deutschen Komponisten Christian Jost.
Sie singen nicht, sie sagen nichts. Überhaupt scheinen sie gar nicht richtig da zu sein, obwohl sie ständig präsent sind. Die Haut dieser Bewohner ist ausgetrocknet wie brüchiges Pergament – traurige Körper in leerer Hülle. Ihre kahlen Köpfe vor den trostlosen Wänden des Bühnenbildners Reinhard von der Thannen scheinen ununterbrochen daran zu erinnern: «In diesem Haus hat niemand das Recht, auch nur ein Haar Glück zu tragen.»
Dabei leidet der Hausbesitzer Master Chen, kräftig und voluminös gesungen von Rod Gilfry, nicht eben unter einem Mangel. Und schon gar nicht unter einer erotischen Angebotsverknappung. Vier Frauen hat er (die Liebe gibt es bei ihm nur im Plural), doch glücklich ist am Schluss keine. Jede buhlt mit ihren Mitteln um seine Gunst.
Von der Bettkante gedrängt
Yu-Ru, die erste, hat ihm einen Stammhalter geboren; Zhuo-Yun, die zweite, ist zwar «noch auf der Schwelle des Begehrens», wird jedoch von May-Shan, der dritten und schönsten, von der Bettkante verdrängt. Wo hat da nur die vierte Platz? Genau, nirgends. Eingeengt fühlt sich die Neuangekommene Song-Lian in den grauen, kalten Mauern des Hauses Chen. Auch in den Familienstrukturen. Und sogar in sich selbst. Die Geschichte endet operngerecht in einem Desaster: in einem mörderischen Geflecht aus Lüge, unkontrollierter sexueller Gier, ungebremstem Willen zur Macht und latentem Wahnsinn.
Dieser findet als klingendes Flirren seinen Weg in die Musik. Ein Flirren, das rhythmisch durchblutet wird. Dazu braucht Jost im Orchestergraben bloss etwas mehr Schlagwerk als sonst. Keine Kopfstände à la Stockhausen, keine Hymnen auf den Zufall à la John Cage und schon gar nichts Kratzbürstiges. Mit Ideologien weiss der Wahl-Berliner sowieso wenig anzufangen. «Mich auf die Einbahnstrasse der Avantgarde zu begeben, war noch nie mein Ding», wirbt der Komponist im Vorfeld der Oper um das breite Publikum.
Die Formenwelt und auch die Besetzung des Orchesters sind traditionell. Zwar haben die Posaunen dienstfrei, dafür sind die übrigen Bläser oft aggressiv auskomponiert. Eher kleines Besteck bei den Streichern, dazu Perkussion, Trommeln, Becken, die ein beträchtliches Brausen erzeugen.
Christian Jost schafft daraus eine Dynamik mit eruptiven Wachstumsraten, entfacht tönende Unwetterstürme im Orchester, lässt es zucken und zischen. Es ist ein Klang, dem die Mitte fehlt. Ständig ist er auf der Suche und nie zu Hause. Immer stört da eine Trommel oder ein spitzes Flirren die Ruhe. Wer genau hinhört, registriert in der Musik jenseits des unentwegten Vibrierens und Klopfens ein zartes Verlangen nach lyrischen Kurven, nach expressiven Aufgipfelungen.
Eingängig ist das und attraktiv in der Klangsprache. Was die Philharmonia Zürich hier an kalter Brillanz und artistischer Körnigkeit des Klangs leistet, kann nicht hoch genug gerühmt werden. Mit seinem Dirigenten Alain Altinoglu steht freilich ein überaus erfahrener Neue-Musik-Stratege am Pult, dessen Aufmerksamkeit nichts entgeht.
Leuchtend in die Katastrophe
Den Sängerinnen und Sängern lässt er genug Raum für Charakterdarstellung. Die Sopranistin Shelley Jackson aus dem Internationalen Opernstudio singt die Song-Lian klar, hell und leuchtend, selbst in der Katastrophe. Wie der Lichtkegel einer Taschenlampe tastet sie mit ihrer Stimme die Weltschwärze des Dramas ab. Claudia Boyle, Nora Gubisch, Liliana Nikiteanu als Konkurrentinnen und die Dienerin Anna Goryachova runden das starke Sängerinnen-Ensemble wunderbar ab.
Zum zwingenden Bühnenereignis allerdings will sich dieses Auftragswerk der Oper Zürich in der Inszenierung durch Nadja Loschky nicht fügen. Zweifellos wohnt der fiebrigen Geschichte – man kennt sie aus Zhang Yimous berühmtem Film – eine grosse Musikalität inne, klingt die Sprache (vom Komponisten selbst zu einem präzisen Libretto zusammengefügt) wie surreal orchestrierte Wortmusik, lädt das märchenhafte Setting zu kompositorischen Formspielereien geradezu ein. Die Inszenierung bleibt letztlich aber zu melodramatisch: Die Protagonistin stirbt gleich zweimal (durch eine Haarnadel der Nebenbuhlerin und durch den Sprung in einen Teich). Und oft sieht man Menschen oder Puppen höchst bedeutsame Handreichungen vollziehen, als gestikulierende oder singende Wegweiser durch das chinesischen Mythosdickicht.
Wild geht es zu beim zentralen Familienfest, alles läuft schief, und die teure Vase zerbricht (Achtung Metapher: eine Ehe in Scherben). Song-Lian bringt die Familie gegen sich auf, weil sie in aller Öffentlichkeit ihren Gatten küsst, worauf die übrigen Ehefrauen ihre Masken niederreissen, ihr wahres Gesicht zeigen und Song-Lian verdammen (umgekehrt erstarrt sie im Verlauf des Stücks immer mehr zur Maske). So nachvollziehbar menschlich die Verstrickungen sind, so aufgeladen gerät die Bildsprache, mit der die Regie sie umsetzt. Die Tatsache, dass hier ein starres Familiensystem das Herz einer Frau zuschnürt, wird von der Regie als dauernde Bedeutungsschwangerschaft inszeniert.
Kommt hinzu, dass die Grundkonstellation «missratenes Leben in einer missratenen Familie in einem missratenen System» in allzu grellen Farben ausgemalt wird. Song-Lian schneidet in einem Mike-Tyson-Moment ihrer Mitgattin Nummer zwei ein Ohr ab. Die Nebenbuhlerin greift sich an die Wunde und streicht sich das Blut schmerzverzerrt auf ihren Spitzen-Kragen. Das ist Melodram hoch zwei, mit dem die Regie zeigt: Seht her, der Frau gehts so was von schlecht.
Ohnehin schreibt die Inszenierung dem Publikum seine Botschaft gern doppelt hinter die Ohren. Mit paradoxem Effekt: Denn je mehr die Oper auf den Hörer einredet, desto weniger vermag sie ihn zu überzeugen – nur gut, dass dafür die Musik mit völlig undogmatischer Schönheit das Winken mit dem Zaunpfahl überspielt und vergessen macht.