Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (11.03.2015)
Die Intendanz Andreas Homoki am Zürcher Opernhaus hat ihre erste Uraufführung: Das Musiktheater «Rote Laterne» von Christian Jost nach einer chinesischen Vorlage überzeugte am Sonntag in jeder Hinsicht.
Den Stoff der «Roten Laterne» kennen wir als üppigen Film aus dem Jahr 1991 von Zhang Yimou mit Gong Li in der Hauptrolle, der in Venedig mit einem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde. Diese Szenen aus dem China der Zwanzigerjahre basieren auf dem Roman «Wives and concubines» von Su Tong. Und dieses Buch hat sich der chinabegeisterte deutsche Komponist Christian Jost als Sujet für sein Auftragswerk des Zürcher Opernhauses ausgewählt.
Dennoch sehen wir kein lebenspralles vormaoistisches China mit exotischen Accessoires auf der Bühne, eher im Gegenteil: Gesichtslose, verschiebbare Wände stellt Reinhard von der Thannen in den Raum. Nichts ist statisch hier, klar ist nur: Nach aussen führt keine der vielen Türen. Und schwer lasten nicht nur die Steine, sondern auch die Traditionen dieser hermetischen Welt, in welche die 19-jährige Song-Lian als vierte Frau von Master Chen tritt. Ein ganzes Rudel geisterhafter Ahnen wacht scheinbar omnipräsent über Sitte, Brauch und Anstand. Alles wird beobachtet, bewertet, sanktioniert. Sein wahres Ich zeigt hier niemand, Intrigen, Eifersucht und Kalkül prägen das Leben in Master Chens Mauern mit seinen vier Ehefrauen.
Extrem seltener Sog
Die Regisseurin Nadja Loschky wird diesem lastenden Druck aus Erwartungen, Intrigen und Konventionen gerecht, indem sie zwar die Figuren und ihre Beziehungskonstellationen ausdeutet, aber stets eine Ebene surrealer Unwirklichkeit in jeder Geste mit erzählt. Stets paaren sich so zum Beispiel natürliche Beziehungsmuster mit irrationalen Bewegungen, realistische Gesten mit überhöhten Posen, auch Versatzstück chinesischer Dekorationen mit der leeren Einöde des weiten Bühnenraums, der vor allem die beiden jüngeren Frauen in ihrer Verlorenheit noch einsamer scheinen lässt.
Die Musik von Christian Jost entwickelt einen in der Neuen Musik extrem seltenen Sog. Die Szenen sind durchkomponiert, gehen durch atmosphärisch dicht gestaltete Zwischenspiele ineinander über. Das Schlagwerk dominiert im Orchestergraben, gleichwohl ist diese Musik fast gar nie grob oder laut oder von jener Schroffheit, mit der die Zeitgenossen gerne die Möglichkeiten des Schlagwerks dramatisch auskosten. Jost setzt die Akzente sehr sparsam, viel lieber arbeitet er mit Klang farben und Tonschichtungen und instrumentalen Mischklängen. Das ergibt ein reiches, dichtes Klangbild. Verbunden mit einer wenig nervösen rhythmischen Schichtung entstehen Klangwelten von suggestiver Kraft, die Emotionen erhalten sprechenden Ausdruck, ohne je demonstrativ zu werden.
Auf Chinoiserien wie Pentatonik hat Jost souverän verzichtet, er braucht keine Stilzitate, um seine Figuren und ihre Gemütslagen ausdrucksvoll und individuell zu schildern, und wenn Traumhaftes, Übersinnliches, Irreales sich einmischt, wie in den Duetten, die Song-Lian mit ihrer eigenen Stimme führt oder in den virtuos-selbstverliebten Koloraturduetten der dritten Frau zusammen mit der Solovioline, so erhält diese Musik eine suggestive Kraft und manchmal atemberaubende Schönheit.
Starke Künstler
Gesungen wird – abgesehen von einigen Gebetsfloskeln auf Mandarin – in Deutsch. Jost ist sein eigener Librettist und pflegt eine manchmal etwas alltägliche Sprache oft in einfachem Parlando, gerne phasenweise mit schnellen Melismen durchsetzt. Auch in den Gesangspartien finden sich keine Extremismen um ihrer selbst willen. Die Koloraturen der dritten Frau, von der wir wissen, dass sie einst ein gefeierter Star der Peking-Oper war, erklären sich aus ihrer Biografie und sind Rückzugsoasen für diese Figur ebenso wie die Puppe, die sie als verkrüppelte Erinnerung an ihre einstmals strahlende Erscheinung mit sich schleppt. Die irische Sopranistin Claudia Boyle sang diese Partie herausragend. In der zentralen Rolle der Song-Lian bewies die junge Amerikanerin Shelley Jackson ihr Potenzial, nicht ohne da und dort Wünsche an einen noch bewussteren Einsatz stimmlicher Mittel offen zu lassen. Nora Gubisch und Liliana Nikiteanu zeigten ihr Format bei den älteren Frauen, Rod Gilfry sang adäquat als Hausherr, ebenso wie Anna Goryachova als Dienerin und der Tenor Spencer Lang als schwuler Erstgeborener.
Mit Alain Altinoglu stand in Zürich einer der jungen Hoffnungsträger unter der Operndirigenten am Pult. Schön, dass er sich zum Anwalt eines neuen Musiktheaters macht, noch schöner, wie er handwerklich-technisch tadellos mit dem bestens aufgelegten Zürcher Opernorchester die Schönheiten und Farben dieser Partitur zum Leben erweckte.