Die Liebe - nichts für Helden

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (17.01.2006)

Orlando, 15.01.2006, Zürich

«Orlando» von Georg Friedrich Händel im Opernhaus Zürich

Ein Berg wird gezeigt, und zuoberst thront Atlas mit dem Himmel auf den Schultern. Wenig später fährt der Berg zur Seite, tritt ein Palast an seine Stelle. Der wiederum wird von einer lieblichen Landschaft mit Schäferhütten abgelöst, und wenn es nottut, fährt ein Brunnen aus dem Boden heraus, hinter dem man sich verstecken kann. Ein Wald sodann, ein Gestade am Meer, eine Grotte, die explodiert, ein Palmenhain, der sich im Nu in eine wüste Höhle verwandelt. Das klingt effektvoll und war es auch, 1733 im King's Theatre am Londoner Haymarket, wo Georg Friedrich Händel am 27. Januar (mit vier Tagen Verspätung gegenüber der Ankündigung) seinen «Orlando» nach Ariost zur Uraufführung brachte. Aber heute? Wie soll eine solche Bilderfolge heute auf die Bühne gebracht werden?

Im Sanatorium

Jens-Daniel Herzog und sein Ausstatter Mathis Neidhardt entschieden sich, die Geschichte von einem Helden, der sich in der Liebe versucht, aber nur den Wahnsinn findet und sich deshalb der Heilkunst eines Magiers überlässt, etwas näher an uns heranzurücken, aber doch nicht zu nah. Weshalb «Orlando» am Opernhaus Zürich in ein Sanatorium des frühen 20. Jahrhunderts verlegt ist - in einen «Zauberberg», wo sich unablässig Wände verschieben, wo sich Räume bilden und auflösen, ein Bett aus der Wand herauskippt und bei Bedarf auch eine furchterregende Operationslampe herunterfährt. Zoroastro, der von Händel in den Text Ariosts hineingeschmuggelte Zauberer, ist ein Magier in Weiss: ein Chefarzt mit kahlem Schädel und herrischer Gestik. In seinem unerschütterlichen Glauben an die Vernunft führt er am Fall seines Patienten Orlando ein Experiment in Sachen Liebe und Eifersucht durch. Ganz von fern lässt tatsächlich «Così fan tutte» grüssen.

Die szenische Disposition mag nicht ganz neu sein - Spitalbetten treten in der Oper immer wieder auf -, aber sie funktioniert vorzüglich, weil sie so konsequent und so genau realisiert wird. Lautlos spielen sich die raschen Verwandlungen ab. Und präzis sind die Figuren ausgezeichnet - bis hin zu dem stummen Gefolge um den Primar. Wenn dieser am Ende hinter einem grünen Leintuch verschwindet, um zur entscheidenden Operation anzusetzen, lässt die Gruppe dieser Statisten mit ganz kleinen Gesten erleben, was in der klassischen Dramaturgie die «Mauerschau» genannt wird. Der Chef selbst wiederum: ein schauerlich machtbewusster Geselle. Günther Groissböck greift nicht nur immer wieder respektheischend nach seiner Taschenuhr, er arbeitet auch mit prächtiger Stimme: einem Bass von bronzener Strahlkraft und zugleich von jener geradezu instrumentalen Beweglichkeit, die in dieser Partie gefordert ist. Ein Glücksfall.

Einer von zweien, denn der Patient begegnet dem unheimlichen Seelendoktor absolut auf Augenhöhe. Die Rolle des Orlando, von Händel für den berühmten Kastraten Senesino geschrieben, von diesem ihrer ungewöhnlichen Anlage wegen aber wenig geschätzt, spart nicht mit kniffligen Aufgaben. Enorm schon die Anforderungen an Umfang und Agilität der Stimme, von unglaublicher Weite aber auch das Ausdrucksspektrum - die Altistin Marijana Mijanovi bewältigt das alles in bewundernswerter Weise. Sie verfügt vielleicht nicht über die Lautstärke, die ein Countertenor heute zu erreichen vermag, aber ihre vokale Kultur lässt in nichts zu wünschen übrig. Wenn sich Orlando am Ende des ersten Akts vom Kriegshandwerk verabschiedet, um sich fortan der Liebe hinzugeben, erzeugt sie durch sorgsame Ausgestaltung des Rhythmischen mitreissenden Schwung, der in eine überaus virtuose Kadenz mündet. Und die Wahnsinnsarie zum Schluss des zweiten Akts, szenisch etwas überalimentiert, wird zum Höhepunkt des Abends.

Darum herum drei Figuren, welche die Fallstricke der Liebe ausbreiten und das mit viel Sinn für Situationskomik tun. Ja, «Orlando» ist zwar eine Opera seria, aber nicht nur findet das Stück jenseits aller Gattungsnorm zu einer psychologischen Vertiefung, die staunen macht, es bindet auch das Erheiternde mit bemerkenswertem Geschick ein - und der Regisseur hat es mit dem richtigen Mass herausgearbeitet. Dorinda liebt Medoro, Medoro dagegen ist Angelica zugetan, wo doch Angelica von Orlando begehrt wird. Da ist guter Rat teuer, braucht es schon einen Zauberer. Unter dem Einfluss Zoroastros bietet Orlando Hand zum lieto fine, aber auch Dorinda tut es: Christina Clark, die ohne Angabe von Gründen die angekündigte Eva Liebau ersetzt, wirkt herrlich quirlig, vermag mit ihrem sehr leichten Sopran dem inneren Wandel der Figur aber nicht voll nachzugehen. Die Partie des Medoro ist bei Katharina Peetz, jene der Angelica bei Martina Janková - trotz dem Vibrato, das sich bei dieser Sängerin immer wieder störend in den Vordergrund drängt - in besten Händen.

Instrumental ausgefeilt

Die Spannung an diesem Abend ergibt sich auch daraus, dass das Gestische das Musikalische frappierend aufnimmt. Und dass das Musikalische wiederum äusserst prononciert dargeboten wird, woran das auf alten Instrumenten spielende Orchester «La Scintilla» der Oper Zürich und der Dirigent William Christie entscheidenden Anteil haben. Schon in der Ouverture mit ihrer weichen Tongebung und dem ziehenden Klang wird deutlich, welche Opulenz und Sinnlichkeit Händels Musik verbreiten kann. Über weite Strecken herrscht der Streicherklang vor; da aber sehr lebendig artikuliert und im Continuo, gerade was die Basslinie betrifft, reichhaltig differenziert wird, kommt es zu keinem einzigen Durchhänger. Effektvoll zudem der sparsame Einsatz der je zwei Blockflöten, Oboen und Hörner sowie, zum Beispiel gegen Ende des dritten Akts, der beiden Viole d'Amore. Wie der Streicherklang dominiert aber auch - und das, obwohl Händel hier nach vielen Seiten hin neue Wege sucht - die Form der Da-capo-Arie. Wenn man in dieser Produktion verfolgt, wie phantasievoll und zugleich selbstverständlich die Sänger in den wiederholten Teilen Verzierungen einfügen, kann man sich wieder einmal bewusst machen, wie viele Türen die Praxis der historischen Aufführung in den letzten Jahrzehnten geöffnet hat.