Urs Mattenberger, Zentralschweiz am Sonntag (01.03.2015)
Premiere · Grosse Oper im kleinen Luzerner Theater: Giacomo Puccinis «La Bohème» wartet mit einem starken Trumpf auf und wurde vom Publikum gefeiert.
An gute Inszenierungen erinnert man sich auch später noch. So erinnerte sich am Freitag bei der Premiere von Giacomo Puccinis «La Bohème» eine Besucherin lebhaft an die letzte Inszenierung des Werks am Luzerner Theater, weil da die Musetta «als Nutte mit Stiefeln bis über die Knie hinauf» auftrat. Das ist pikant, weil der Regisseur der aktuellen Inszenierung, Achim Thorwald, im Gespräch gesagt hatte, das bringe für das Verständnis des Werks nichts. Stattdessen versprach er, das Paris des 19. Jahrhunderts, in dem die Liebesgeschichte zwischen dem mittellosen Dichter Rodolfo und der schwindsüchtigen Mimì spielt, wiederaufleben zu lassen. Dass die Produktion damit als Renner der Saison vorprogrammiert ist, bestätigte die vom Publikum gefeierte Premiere.
Der Naturalismus kippt
Was aber wird davon in Erinnerung bleiben? Kaum all das, was Erwartungen einfach bestätigt. Schon das Bühnenbild (Ausstattung: Christian Floeren) des ersten Aktes stammt wie aus einem Bohème-Bilderbuch: die raumhoch verglaste Mansarde – ein frühindustrieller Loft mit obligatem Ofen und Bett – oder die Cafè-Szene, in der Theaterchor und Luzerner Kantorei starke Auftritte haben, bieten viel Atmosphäre nah am Klischee. Überhaupt sieht man immer, wovon die Menschen singen: Staffelei, Schneegestöber, Milchkannenfrauen – vom Nonkonformismus der Bohème-Aussteiger ist da nichts zu spüren.
Aber der Naturalismus erlaubt eine Regieidee, die dem Abend ein starkes Gepräge gibt. Die zunehmende Reduktion der Bühne lässt das Spiel ins Surreale kippen. Im letzten Akt, in dem das Bett und der Ofen auf der Strasse stehen, die sich nach hinten ins Dunkle verflüchtigt, verdichtet sich das in Mimis Sterbeszene zur existenziellen Metapher.
Der Kreis schliesst sich
Das ist weniger knallig als Nuttenstiefel. Aber Thorwald rückt bewusst die Sänger selbst ins Zentrum. Das funktioniert vorzüglich schon in den launig-komödiantischen Bohème-Szenen. Todd Boyce als wendiger Marcello, Flurin Caduff als spritziger Schaunard und Szymon Chojnacki als bedächtiger Colline setzen die doppelbödig-witzigen Pointen des Librettos mit kernigen Stimmen und viel Spielfreude um. Carla Maffioletti lässt als flatterhafte Musetta keine Wünsche offen. Und Carlo Jung-Heyk Cho als Rodolfo weicht der Gefahr, den Leidensdruck bis zum Schluchzen zu forcieren, mit gelöst strömenden Gesangslinien aus.
Sie alle aber überstrahlt die Mimì von Jutta Maria Böhnert. Zum einen bietet sie schlicht grosse Oper – mit einer Stimme, die mit ihren Vibrationen den Raum auch in den dramatisch hochgefahrenen Ausbrüchen weitet, aber nicht sprengt. Zum andern verbindet sie diese Gefühlsdramatik mit einer Nüchternheit in der Darstellung, die den Realismus beklemmend zuspitzt. Dafür bietet das Luzerner Sinfonieorchester unter Boris Schäfer alle Tonlagen: Manchmal klingt dieser Puccini modern kühl, in den komödiantischen Szenen unterstützt die Akustik den Cabaret-Ton; wo er emotional überwältigt, gewinnt der Sound grossorchestrale Weite.
Damit hat diese Produktion den Stellenwert, den sie durch die äusseren Umstände gewinnt. Denn mit dieser «Bohème», sagte der 71-jährige Regisseur im Gespräch, schliesst sich ein Kreis. Er hat Mentha mit diesem Werk vor 30 Jahren als Regisseur an sein Theater in Würzburg geholt und ihm als Oberspielleiter den Weg zur Intendantenkarriere geebnet. Von Menthas «Bohème» blieb Thorwald in Erinnerung, dass der Maler Marcello die kreisrunde Bühne in der Art des «Action Painting» bespritzte. Wetten, dass wir dereinst, wenn man uns nach der letzten Luzerner «Bohème» fragt, sagen werden: Da war doch die Mimì, die uns, ohne selber zu weinen, zu Tränen rührte!