Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (20.04.2015)
Verdis «Traviata» im Opernhaus Zürich
Als sicherer Wert im Spielplan gedacht, ist Verdis «Traviata» im Opernhaus Zürich nur halb gelungen. Die Ursache dafür liegt nicht nur beim notfallmässigen Wechsel in der Besetzung der Titelpartie.
An der Bühnenrückwand flackern diffuse weissliche Lichtflecken. Bisweilen schieben sie sich übereinander, manchmal werden sie zu flachen Streifen oder zu hohen Säulen. Aber stets sind sie in leichter, kaum merklicher Bewegung – bis zum dritten Akt, wo sie dann durch eine stehende Erscheinung abgelöst werden, die von fern an ein Röntgenbild erinnert. Was die Installation, mit der die Videokünstlerin Anna Henckel-Donnersmark die neue Produktion von Verdis «Traviata» im Opernhaus Zürich bereichert, bedeuten mag?
Ausstattungstheater
Es bleibt unklar wie so manches in der Inszenierung, die David Hermann in der Ausstattung von Christof Hetzer entwickelt hat – aber vielleicht ist es doch so, dass die Geschichte der Edelprostituierten Violetta Valéry, der in den letzten Momenten ihres Lebens die Liebe geschenkt und gleich wieder genommen wird, einmal mehr aus der Rückschau erzählt wird. Als eine Reihe von Traumbildern einer komatösen Patientin, deren Augen nur noch undeutliche Konturen wahrzunehmen vermögen. Darauf weist nicht zuletzt das Tableau vivant zu Beginn der Oper hin – das abrupte Stehenbleiben der Zeit und damit jeder Bewegung innerhalb der durchgestylten Partygesellschaft, die hier zwischen grossformatigen Ledersofas versammelt ist.
Am Ende dann, kurz bevor sie zusammenbricht, steht Violetta zwischen ihrem Geliebten Alfredo und dessen Vater Giorgio Germont; die beiden Männer halten die Hände der todgeweihten Frau in die Höhe. Nähme man es nicht als Traumbild, es wäre der reinste Kitsch.
Vielleicht lässt sich von diesem Ansatz her auch das doch etwas eigenartige Rollenverständnis erklären, dem die Figur des Giorgio Germont unterworfen wird. Tritt er im zweiten Akt vor die Geliebte seines Sohnes und verlangt er die Beendigung der Beziehung, erscheint er als ein grobschlächtiger Prolet: kariertes Hemd über der Hose, schwere Lederjacke, schwarzer Motorradhelm. So singt Quinn Kelsey auch: röhrend, mit schwerem Ton und mit Vorliebe oberhalb der Mezzoforte-Grenze. Die Argumente, mit deren Hilfe er Violetta zum Verzicht auf ihre Liebe bewegen will, stehen dazu jedoch in krassem Widerspruch, entsprechen sie doch bürgerlichen Auffassungen von Ordnung und Ehre. Im weiteren Verlauf zeigt sich dann aber, dass dieser Germont bestenfalls ein Spiessbürger ist, ein Aufsteiger nämlich, der sein gesellschaftliches Vorankommen nicht durch eine unanständige Verbindung seines Sohnes gefährdet sehen will. Erst ist das karierte Hemd in die Hose gesteckt, schliesslich ist es durch ein hochweisses zu einem feinen, glänzenden Anzug ersetzt. Mal was anderes, gewiss, aber ist es schlüssig?
Vor allen Dingen sind es Elemente der Ausstattung, die hier das Geschehen tragen, während die szenische Ausarbeitung der einzelnen Figuren in den Ansätzen steckengeblieben ist. Was sich zwischen Giorgio und Alfredo Germont, zwischen Vater und Sohn, abspielt, das haben andere Inszenierungen dieser viel gespielten Oper schon weitaus packender vorgeführt. Ganz besonders unentschieden wirkte an der mit Jubel aufgenommenen Premiere die Violetta von Sonya Yoncheva. Das aber hat gewiss mit den schwierigen Umständen zu tun; knapp zwei Tage vor ihrem Auftritt ist die junge Sopranistin aus Bulgarien in die Produktion eingestiegen – und das, weil Anita Hartig am Ende des Probenprozesses aus, wie es hiess, gesundheitlichen Gründen ihre sechs der insgesamt zwölf angesetzten Vorstellungen absagen musste. Sonya Yoncheva hat eine wunderbare, klangvolle und sehr tragende Stimme. Sie kennt die Partie, hat aber, obwohl (oder vielleicht: weil) sie die Violetta schon an der New Yorker Met gesungen hat, keine wirklich klare Vorstellung von ihr. Zu einem wahrhaft berührenden Moment wird ihr verzweifeltes Bitten um die Liebe Alfredos im zweiten Akt, ihr Sterben im dritten bleibt jedoch völlig belanglos. Nicht ausgeschlossen, dass sie bei den kommenden Vorstellungen in die Produktion hineinwächst – und dass sie sich auch mit dem vergleichsweise engen Raum des Opernhauses Zürich anfreundet.
Starkgesang
Denn auch Sonya Yoncheva agiert dynamisch eher im oberen Bereich – übrigens durchaus in Übereinstimmung mit den ästhetischen Prämissen an der von Andreas Homoki geleiteten Zürcher Oper, die den antiquiert wirkenden Starkgesang zur Hausregel gemacht hat. Als ob Alfredo Kraus nicht gesungen hätte – doch halt, einen gibt es in dem insgesamt sehr ordentlich besetzten Ensemble, der etwas mehr zu differenzieren sucht. Es ist Pavol Breslik, der im ersten Akt als ein scheuer, geradezu verklemmter Alfredo auftritt und das auch stimmlich umsetzt: durch ein feines Abschattieren seines ebenso samtenen wie obertonreichen Tenors. Leider wird er vom Philharmonia-Orchester der Oper Zürich erbarmungslos an die Wand gedrückt, denn der Dirigent Marco Armiliato hat Klang und Balance wenig im Griff. Wie Alfredo in dem zarten Duettino nach dem «Brindisi» Violetta seine Liebe erklärt, treten die in der Partitur klar mit einem «piano» versehenen Einwürfe der Holzbläser und der vier Hörner trötend in den Vordergrund. Das ist italienischer Schlendrian vom Feinsten – wie er sich auch in den durchwegs zu lang gesungenen Endsilben manifestiert. Dem Dirigenten zugutezuhalten sind immerhin seine ausgezeichnet getroffenen, natürlich aufeinander abgestimmten Tempi. Und im weiteren Verlauf der Oper kann Pavol Breslik zeigen, dass er, wenn er will, durchaus auf Reserven zurückgreifen kann. Sein Alfredo ist der Lichtblick in dieser insgesamt ausgesprochen durchzogenen Produktion.