Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (20.04.2015)
Sonya Yoncheva wird derzeit gehypt wie keine andere Sopranistin. In der neuen «Traviata» im Zürcher Opernhaus übernahm sie kurzfristig die Rolle der Violetta. Die Nicht-Regie machte es ihr leicht.
Wenn Operndirektoren vor den Vorhang treten, um eine Besetzungsänderung anzusagen, wirken sie in der Regel zerknirscht. Nicht so Andreas Homoki vor der Premiere von Giuseppe Verdis «La Traviata»: Beschwingt, fast triumphierend, kündigte er an, was man nur einen Coup nennen kann. Da war doch im allerletzten Moment Anita Hartig krank geworden, die ihr Rollendebüt als Violetta hätte geben sollen. Und als Ersatz konnte die derzeit angesagteste Violetta überhaupt engagiert werden: Sonya Yoncheva.
Eigentlich hätte die am Genfersee lebende Bulgarin ihr Zürcher Debüt bereits Anfang April als Lucia di Lammermoor geben sollen; und man kann sich den Ärger im Haus vorstellen, als sie vor einigen Monaten absagte, weil sie die Rolle in der Folge ihrer stimmlichen Entwicklung aus ihrem Repertoire gestrichen hat. Aber dafür war sie nun frei für ihre Paradepartie, die sie – Zufälle gibt es! – eben erst an der New Yorker Met unter Marco Armiliato gesungen hatte, der nun auch die Zürcher Produktion leitet.
Nur nicht stehen bleiben!
Homoki strahlte also, und er strahlte zu Recht. Denn Yoncheva war das Ereignis eines Abends, der ansonsten nicht gerade ereignisreich verlief. Abgesehen von ein paar schrillen Spitzentönen im ersten Akt, die man der Aufregung zuschreiben darf, hat sie sängerisch alles zu bieten, was eine Violetta braucht: Glamour und Wärme, Stärke und Substanz, eine ungemein bewegliche Stimme, die sich Armiliatos rasanten Tempi mühelos anpassen kann, und eine unendliche Ruhe in den leisen Momenten. Schön hat sie geliebt, schön ist sie gestorben, und das derzeit wieder einmal inflationär verwendete Adelsattribut der «neuen Netrebko» kann man getrost vergessen: Yoncheva hat es nicht nötig.
Und szenisch? Da war ihr Auftritt weit riskanter, schliesslich hatte sie keine einzige komplette Probe vor der Premiere – und stand dann mit Ausnahme von wenigen Takten die ganzen zweieinhalb Stunden auf der Bühne. Aber sie wirkte dabei, als sei sie nie woanders gewesen. Was diese Aufführung ausstrahlte, das ging von ihr aus.
Das lag nun allerdings auch daran, dass David Hermanns Inszenierung überaus zurückhaltend ist. Oder, weniger freundlich formuliert: überaus einfallslos. Anders als in Luzern, wo er im Sommer 2013 eine ebenso eigenwillige wie stimmige Bildsprache für Chaya Czernowins rätselhaft düstere Oper «Pnima . . . ins Innere» gefunden hatte, setzt Hermann diesmal zusammen mit seinem Ausstatter Christof Hetzer auf eine sehr vage Aktualisierung. Da gibt es schwarze, je nach Beleuchtung glänzende Podeste, die sich verschieden zusammensetzen lassen. Ledersofas, wie man sie aus stillosen Lounges kennt. Jeans, coole Schuhe und Haute Couture, wie sie auch das Premierenpublikum trägt. Ein paar Grünpflanzen. Und zwischen diesen Kulissen spielt man die Geschichte wie eh und je. Hände werden gerungen, die Umarmungen sind innig, ratlos oder zornig schreitet man über die Bühne, und die ganze Personenführung dient einem einzigen Zweck: Die Figuren sollen auf keinen Fall stehen bleiben, weil das ja altmodisch wirken könnte.
Das reicht nun allerdings nicht aus, um eine neue (oder auch nur irgendeine) Sicht auf diese altbekannte Geschichte zu entwickeln. Und es hilft nicht weiter, wenn Hermann im Programmheft Ideen schildert, die auf der Bühne nicht nachzuvollziehen sind: dass nämlich Violetta jede ihrer Identitäten ins Extrem treibe – als Partykönigin, als Liebende, als fromm gewordene Sterbende. Dass ihre Krankheit deshalb eher ein Burn-out als Tuberkulose sei. Und dass man sie deshalb durchaus nicht nur als Opfer der Gesellschaft sehen könne.
Ein braves Jüngelchen
Diese Gesellschaft wirkt hier weitgehend anonym, der Chor ist eine bunt gekleidete Masse, die Nebenfiguren bleiben mit Ausnahme von Ivana Ruskos gekonnt übereifriger Annina blass. Aber auch die beiden Männer neben Violetta haben es nicht leicht: Pavol Breslik vor allem, der meistgeförderte Tenor im Zürcher Opernhaus, der als Alfredo einmal mehr eine Rolle zugeteilt erhalten hat, für die seine Stimme eigentlich zu leicht ist. So grossartig er war in Brittens «Turn of the Screw»: Neben Yoncheva wirkt er im ersten Akt wie ein braves Jüngelchen, das noch keine Ahnung hat, was das Leben mit sich bringen kann. Und so heftig er danach seine Verzweiflung und seine Wut ausspielt und aussingt: Wirkliche emotionale Tiefe erreicht er erst im letzten Akt, in der Fassungslosigkeit über Violettas Sterben.
Quinn Kelsey als Alfredos Vater Giorgio Germont kommt rascher auf Touren. Sein warmer, zuweilen etwas schwerer Bariton passt zu dieser Figur, die es ja eigentlich nicht bös meint mit der Violetta, auch wenn er von ihr den Verzicht auf die Liebe fordert. Aber was soll der Motorradhelm, den ihm die Regie in die Hand drückt? Seine Moralvorstellungen werden nicht heutiger dadurch. Und auch sein für diese Rolle doch noch sehr jugendliches Alter irritiert diesmal (anders als im szenisch stringenteren Zürcher «Rigoletto»): Kelsey ist 37, ein Jahr älter als Breslik, drei Jahre älter als Yoncheva. Da spielen drei Gleichaltrige Oper, gut, engagiert, aber in dieser Konstellation nicht wirklich glaubwürdig.
Auch Marco Armiliato und die Philharmonia Zürich können da nicht viel ändern; zu heterogen ist der musikalische Ansatz. Die Ouvertüre hatte noch schönste Hoffnungen geweckt, so leicht und traurig wurde sie gespielt. Und auch die schnellen Tempi lassen sich vertreten: Es werden nun mal rauschende Feste gefeiert in diesem Stück. Aber dann wieder sorgten Koordinationsschwierigkeiten insbesondere mit dem Chor dafür, dass die Festlaune wieder verflog. Und immer wieder wurde das Orchester so laut, dass die leichteren Stimmen keine Chance hatten. Ob wohl Armiliato noch zu sehr auf die weit grössere Met geeicht war? Jedenfalls schien er sich im Laufe des Abends immer mehr einzuhören in den Raum – und das Orchester steigerte sich von Akt zu Akt.
Verpasste Chance
Am Ende blieb (neben dem Jubel für die drei Hauptdarsteller) dennoch die Ernüchterung: Bei einem der meistgespielten Werke der Operngeschichte sind die Erwartungen nun mal hoch, und diese «Traviata» erfüllt sie nicht. Sonya Yoncheva muss zwar keine Vergleiche scheuen, aber in den anderen Rollen hat man Stimmen im Ohr, mit denen sich die Zürcher Protagonisten nicht messen können. Dass die Besetzung der Violetta und des Alfredo nach sechs von zwölf Aufführungen wechseln wird, ist zudem alles andere als ideal. Und bei der Regie kann man nur von einer verpassten Chance sprechen: Eine «Traviata», die so sehr im Ungefähren bleibt, mag nicht einmal die Buhrufer richtig in Rage versetzen.
Bei einer derart berühmten Oper sind die Erwartungen hoch, und diese «Traviata» erfüllt sie nicht.