Die subtilen Spiele um die Macht

Tobias Gerosa, Basler Zeitung (20.04.2015)

La Traviata, 18.04.2015, Zürich

Genau und repertoiretauglich: Die Neuinszenierung von Verdis Oper «La Traviata» in Zürich

Die neue Zürcher «Traviata» braucht etwas Zeit. Bis zur Pause nach dem zweiten Bild wirkt sie in dem von Chris­tof Hetzer gestalteten, leicht unterkühlten schwarzen Raum voller Podeste und Rampen zwar präzis, aber konventionell. Der Chor steht schon in der Ouvertüre eingefroren auf der Bühne, während Violetta unsicher umherirrt; das Fest ist exakt auf den Text inszeniert, die Stimmung wirkt mehr angestrengt vergnügt und unterschwellig aggressiv gegen den Neuling Alfredo als trink­selig   – was der Wirkung des «Brindisi» aufs Premierenpublikum keinen Abbruch tat: Es gab Szenenapplaus.

Doch dann folgt das intime, aus Arien und zwei grossen Duett-Szenen gebaute zweite Bild. Vor allem in den Szenen Alfredos mit seinem Vater Giorgio, der den Sohn von der Beziehung zur Edelprostituierten Violetta abbringen will, zeigt sich die Genauigkeit der Lesart des Regisseurs David Hermann. Mit Gesten, Blicken und kleinen Betonungen entfaltet sich ein feines Spiel um Macht und Gefühl, das Pavol Breslik und Quinn Kelsey packend umsetzen.

Routine und vokale Präsenz

In den Szenen mit Violetta entsteht diese Intensität nie, auch wenn Sonya Yoncheva gelöster agiert als in den hohen Koloraturen des ersten Aktes. Sie sprang wenige Tage vor der Premiere für die erkrankte Kollegin Anita Hartig ein. Dass ihr szenische Probezeit fehlte, wird bei aller vokalen Präsenz hier sichtbar, wo die Inszenierung auf die musikalisch so starke Vorgabe und die Intimität der Situationen vertraut. Der Unterschied zwischen sechs Wochen langen Proben und reiner Rollenroutine (vor Kurzem zum Beispiel an der New Yorker Met) ist nicht zu übersehen, was man der Einspringerin nicht zum Vorwurf machen kann.

Nach der Pause fällt dies wieder weniger ins Gewicht, weil die Inszenierung die Schraube anzieht. Regisseur Hermann zeigt, wie die Gesellschaft mit Violetta und Alfredo umgeht, als sie versuchen, zurückzukommen. In den meist nur pittoresken Zigeunerchören werden die beiden vorgeführt, das Spiel ist ein blutiges Unterwerfungsritual, auf dessen Verlierer buchstäblich heruntergeschaut und -gespuckt wird. Das ist drastisch und durch die Genauigkeit der Personenführung absolut legitimiert und folgerichtig. Hier passt dann sogar, dass Pavol Breslik in der Rolle des Alfredo Germont angestrengt klingt.

Im Schlussbild deuten Hermann und Hetzer Violettas Tuberkulose-Tod getreu der Musik als Verklärung – und knüpfen damit an ihre bildstarken Basler Arbeiten («La Bohème», «Pique Dame») an. Dass Alfredo und sein Vater nochmals zu ihr kommen, ist nur ihre Wunsch-, ja ihre religiös überhöhte Wahnvorstellung, für die sie das Kruzifix wegwirft. Doch nur sie sieht die beiden, die wie zwei Liebhaber zu ihr kommen, während die Dienerin wartet, bis sie stirbt. Auch dass die Regie Baron Duphol (Cheyne Davidson, wie Ivana Ruskos Annina szenisch sehr präsent), Alfredos Konkurrenten, hier nochmals stumm auftreten lässt, wirft ein interessantes Licht auf die dargestellte Gesellschaft, die Verdi ja als zeitgenössisch sah. Die paar Buhs gegen die Regie neben viel Applaus sind dann schon ein Beweis dafür, dass die szenische Analyse wohl zutraf.

Dass der Abend trotzdem mehr als solide denn brillant in Erinnerung bleiben wird, liegt an den – abgesehen von Kelseys legatoselig-überlegenem Vater Germont – doch etwas durchzogenen vokalen Leistungen und am grundsoliden und sängerfreundlichen Dirigat Marco Armiliatos, der viele Piano-Möglichkeiten auslässt. Es lohnte sich wohl, den ersten Teil der Inszenierung mit dem Wissen, was im zweiten folgt, nochmals zu sehen. Die Folgevorstellungen dürften gegenüber der Premiere auch musikalisch noch gewinnen.