Houellebecqs Frust

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (27.04.2015)

Così fan tutte, 24.04.2015, Basel

«Così fan tutte» am Theater Basel

Früher oder später musste es passieren. Was im Schauspiel seit Jahr und Tag üblich ist, nämlich das Ein- und Zurichten der gesprochenen Texte für die Belange der Regie, fiel im Musiktheater bis anhin unter ein Tabu. Unvorstellbar, dass ein Regisseur den Partituren von Mozart oder Wagner mit der Schere zu Leibe rücken könnte, um sich daraus ein dem eigenen Welterklärungsbedürfnis gemässes Opernwunschwerk zurechtzubasteln. Dass in der Bühnenpraxis hier einmal eine Arie, dort vielleicht ein Rezitativ den Umständen der Aufführung zum Opfer fällt – geschenkt. Aber ein ganzes Stück? Der Regisseur Calixto Bieito hat genau dies jetzt am Theater Basel mit Mozarts Oper «Così fan tutte» durchexerziert. Von dem wundersamen Wechselspiel der Liebe, das für gewöhnlich gut dreieinhalb Stunden währt, sind dabei noch knapp achtzig Minuten übrig. Auch sonst ist vieles anders.

Variationen der Enttäuschung

Bieito ist schlau genug, seine Bearbeitung nicht als «Verbesserung» Mozarts auszugeben (was reichlich anmassend wäre) oder auch bloss als eine «Interpretation» des Librettos von Lorenzo da Ponte. Er nennt seine Radikalverschlankung eine «Variation», in der er eine eigene «Geschichte über Liebe, Enttäuschung und Wunschträume» erzählen will. Dementsprechend setzt das Geschehen bei Bieito nach dem Ende der Oper ein. Die vier Liebenden, Fiordiligi, Dorabella, Ferrando und Guglielmo, wissen nach dem Sündenfall ihres Partnertausches in der zurückliegenden Opernhandlung nicht mehr so recht, zu wem sie gehören. Inzwischen hat offenbar jeder mit jedem irgendwie das Bett geteilt, womöglich sind dabei sogar Konstellationen ausprobiert worden, die Mozart und da Ponte niemals hätten zeigen dürfen. Doch der Zauber des ersten Erkennens ist längst postkoitaler Ernüchterung gewichen.

Jetzt ergehen sich alle bloss noch in Trübsinn. Statt der Rezitative und manchen schönen Gesangsensembles werden ausgiebig Gedichte von Michel Houellebecq rezitiert. Deren Tenor ist immer der gleiche: grenzenlose Ermüdung, ja Lebensekel angesichts allumfassender sexueller Frustration. Was bleibt, wenn die Liebe geht und die Lust auch nicht mehr ist, was sie war im ersten Rausch? Die Antwort gibt, gleich zu Beginn, die darstellerisch herausragende Noëmi Nadelmann als in die Jahre gekommenes Hausmädchen Despina. Überschminkt und aufgedonnert wie zum Rendez-vous, versucht sie sich in tragikomischer Verzweiflung ihres frivolen Leibliedchens «Una donna a quindici anni» zu entsinnen. Vergebens. Anstelle des Traums von Jugend und Libertinage erscheint wieder nur Don Alfonso (Andrew Murphy), der zynische Frauenversteher, den die Zeit vollends zum Misanthropen gemacht hat.

Schauspiel, aber keine Oper

Aus dieser Eröffnung, die dank den Sänger-Darstellern dichtes, atmosphärisches Schauspiel, aber keine Oper ist, hätte etwas werden können. Doch danach geschieht rein gar nichts mehr. Stattdessen gibt es ein Potpourri der bekanntesten «Così»-Arien und -Ensembles, ziemlich willkürlich durcheinandergewürfelt und teilweise verkürzt – und dazwischen immer wieder Houellebecq. Das wirkt binnen kurzem arg vorhersehbar, eindimensional und bleibt, was viel bedenklicher ist, geradezu erschütternd weit unter dem Niveau von Mozarts und da Pontes kühnem «Wahlverwandtschaften»-Experiment. Hat unsere Zeit dem Marivauxschen Geist des 18. Jahrhunderts wirklich so erbärmlich wenig entgegenzusetzen?

Wie Lichtpunkte in der Finsternis wirken da die verbliebenen originalen Musiknummern, von Anna Princeva, Solenn' Lavanant-Linke, Arthur Espiritu und Iurii Samoilov durchweg ansprechend gesungen und vom Sinfonieorchester Basel unter der Leitung des Lübecker Generalmusikdirektors Ryusuke Numajiri sehr solide begleitet – wie gern hätte man mehr von ihnen allen gehört! Nein, dies ist sicher nicht der Königsweg zu einer Opernrezeption der Zukunft, eher das Ende der Gattung.