Das triste Leben nach dem kleinen Tod

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (27.04.2015)

Così fan tutte, 24.04.2015, Basel

Die Mozart-Oper «Così fan tutte» in der Light-Version von Calixto Bieito am Theater Basel

Die Premiere der Oper «Così fan tutte» von Wolfgang Amadeus Mozart am Theater Basel begann am Freitagabend mit 75-minütiger Verspätung. Grund war ein Bombenalarm beim Tinguely-Brunnen unmittelbar vor dem Haupteingang der Grossen Bühne.

Hunderte Opernbesucher warteten vor der Absperrung am Steinenberg und am Hintereingang des Theaters. Als dieser geöffnet wurde, strömten viele von ihnen ins Foyer, wo ihnen auf Kosten des Hauses Gratisgetränke spendiert wurden. Theaterdirektor Georges Delnon versicherte dem Publikum, dass es sich bei dem Bombenalarm nicht um einen Regie-Gag handelte, und gab endlich das Startsignal zur Premierenaufführung der Mozart-Oper. Noch lange nach dem Ende der Aufführung standen Einsatzfahrzeuge von Polizei und Feuerwehr vor dem Theater.

Die Aufführung beginnt nicht mit der bekannten Orchesterouvertüre – schliesslich hat man es mit einem ­«Projekt» von Calixto Bieito unter Verwendung des Stücks von Lorenzo da Ponte und Wolfgang Amadeus Mozart zu tun –, sondern mit einer mehr gehauchten als gesungenen Arie der Kammerzofe Despina, die rauchend und mit ausgeleierter Stimme ein Gedicht rezitiert.

Erst danach bemerkt man, dass das Sinfonieorchester Basel auf der Hinterbühne aufgestellt ist. Es spielt unter der Leitung von Ryusuke Numajiri mit der Feinheit und Transparenz eines Kammerorchesters die Ouvertüre zur Oper «Così fan tutte» von Mozart und wird sich auch danach trotz schlechten Sichtkontakts zur Bühne keine Blösse geben. Dann kullern aus dem breiten Bett, das die Mitte der Bühne einnimmt, gleich zwei Liebespaare, noch ganz benommen vom Sex, und wir harren des ­Kommenden.

Vorher und nachher

Es gibt in diesem Stück zwei Kategorien von Paaren. Die einen hatten gerade Sex und leiden an einer postkoitalen Depression, wohl auch an ihrem schlechten Gewissen, denn sie waren mit dem falschen Partner im Bett. Die andere Kategorie besteht aus Despina und Don Alfonso.

Sie sind zusammen alt geworden, und Despina möchte wieder einmal ihren Mann in sich spüren. Aber der wirkt unwillig, schleicht nur griesgrämig auf der Bühne herum. Sie und Don Alfonso (Andrew Murphy) sind ein Paar jenseits des Zenits der Beziehung. Bei ihnen versteht sich Sex nicht mehr von selbst, sondern setzt jedes Mal eine Art Familienkonferenz voraus.

Despina ist die Spielführerin und eigentliche Hauptfigur dieser szenischen Variation über «Così fan tutte». Ganz neu ist das nicht. Man hat schon Inszenierungen – etwa von Herbert Wernicke am selben Haus – mit einer klugen, emanzipierten Despina gesehen; einer aufgeklärten, Zeitung lesenden Frau, die sich selbst aus der Bildungsferne befreit und begreifen lernt, wie die Welt funktioniert.

In Calixto Bieitos Fassung ist Despina dagegen eine vulgäre, nikotinsüchtige Schlampe, neben welcher der Philosoph Don Alfonso völlig verblasst. Und wie Noëmi Nadelmann schonungslos, mit vollem Körpereinsatz und leidenschaftlichem Mezzosopran diese im Grunde widerliche Rollenzeichnung ausfüllt, nötigt einem hohen Respekt ab – auch, wie sie die zum Teil deftigen Texte von Michel Houellebecq rezitiert.

Auch die Schwestern Fiordiligi und Dorabella, die sich übers Kreuz mit dem Verlobten der jeweils anderen verbunden haben, sind mitsamt ihren Partnern Guglielmo und Ferrando gealtert. Sie sind schon in dem Alter, da man nichts daran findet, den ganzen Tag in Schlafkleidung herumzutigern. Da ihre Darstellerinnen und Darsteller allesamt schöne Menschen sind, stört dieser Beitrag zur Tradition des Basler Unter­hosentheaters nicht besonders.

Calixto Bieito zeigt sie uns in seiner radikal pessimistischen Stückversion als Einzelne, als Vereinzelte und Vereinsamte: erste Beziehung kaputt, zweite ohne Perspektive. Die kommen, denkt man, nicht mehr zusammen, und am Ende werden sie die Bühne in unterschiedliche Richtungen verlassen. Dass Fiordiligi ihre angebliche Standhaftigkeit mit einem Felsen verg­lichen hat (herrlich gesungen: «Come scoglio»), ist jetzt ebenso vergessen wie die heuchlerische Klage von Dorabella und Fiordiligi über das Schicksal, das sich so rasch gewendet hat.

Konstanz und Treue

Neben der bestimmenden Figur der Despina bleibt für die vier jüngeren Leute wenig Raum zur Entfaltung. Sie kommen – so will es nun einmal der Regisseur – nicht aus der Depression heraus. Zum Singen kommen sie indes doch. Die festspielerfahrene russische Sopranistin Anna Princeva glänzt mit lupenreiner Intonation, schönen Phrasierungen und einer beeindruckenden Bühnenpräsenz. Ihre Mezzo-Kollegin Solenn’ Lavanant-Linke bleibt der Dorabella nichts an stimmlicher Intensität schuldig (intonatorisch wirkte sie nicht ganz so sattelfest).

Der Tenor Arthur Espiritu als Ferrando wird vom Regisseur szenisch als langweilige Salzsäule behandelt, singt aber mit ausnehmend klarer, fest sitzender Stimme. Seine A-Dur-Arie «Un’aura amorosa» ist ein Highlight der Produktion. Kaum weniger rühmenswert ist die Besetzung des Guglielmo mit dem angenehm timbrierten, sauber singenden Bariton Iurii Samoilov, der vergeblich die «Costanza» und «Fedeltà» seiner Braut beschwört.

Wo aber bleiben, so mag man fragen, die Interventionen des schlauen Don Alfonso, wo die komischen Verwechslungs- und Verstellungsszenen dieser Oper? Calixto Bieito hat sie alle wegrationalisiert. Alfonso ist ein stumpfer Greis, und Despina spielt weder den Arzt noch den Notar. Dafür mimt sie eine alternde Ulknudel, die das Quartett der vier Liebenden mit Papier­girlanden schmückt und Seifenblasen in die Luft prustet. Despina ist neben Calixto Bieito wohl die Einzige, die das komisch findet.

Freundlicher, aber enden wollender Applaus nach dem nur 75 Minuten langen, pausenlosen Versuch, eine in sich vollkommene Mozart-Oper in ein halbwegs aktuelles Kammerspiel zu verwandeln.