Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (27.05.2015)
Vivaldis «La verità in cimento» am Opernhaus Zürich
Mit «La verità in cimento» zeigt das Opernhaus Zürich erstmals ein Bühnenwerk Antonio Vivaldis. Das Werk erweist sich als komplexe Familientragödie, in der bisweilen sogar «über Kreuz» geliebt wird.
Sitzen wir in der falschen Vorstellung? Das ist doch gar kein orientalischer Harem, sondern das protzige Innere einer Villa, die – beispielsweise – am Zürichberg stehen könnte. Der Sultan sieht aus wie ein reicher Geschäftsmann aus heutiger Zeit. Und die Zweitfrau des Sultans erscheint als Hausangestellte in weisser Schürze. Die Neuinszenierung von Antonio Vivaldis Oper «La verità in cimento» am Opernhaus Zürich spielt offensichtlich nicht in einem muslimischen Sultanat. Schauplatz der 1720 für Venedig komponierten Oper ist auch nicht die Dogenstadt im 18. Jahrhundert mit ihrem ausschweifenden Leben. Nein, der Regisseur Jan Philipp Gloger, der Bühnenbildner Ben Baur und die Kostümbildnerin Karin Jud verlegen das Geschehen – wieder einmal, möchte man sagen – in das Wohlstandsmilieu der heutigen westlichen Gesellschaft.
Die vertauschten Kinder
Der Kaufmann Mamud hat zwei Söhne, die aber von zwei verschiedenen Müttern stammen. Zelim hat er mit seiner Ehefrau Rustena gezeugt, Melindo aber mit seiner Hausangestellten Damira. Um Damira, die sich in ihren Ansprüchen zurückgesetzt fühlt, zu besänftigen, verspricht ihr Mamud, dass ihr Sohn Melindo seine Firma erben werde. Zu diesem Zweck vertauscht er die beiden Kinder gleich nach der Geburt, so dass nun Rustena Melindo, Damira aber Zelim grosszieht.
Die Handlung setzt ein, als die Hochzeit des vermeintlichen Erben Melindo mit der attraktiven Rosane bevorsteht. Da nun platzt Mamud, von Gewissensbissen geplagt, mit der Offenbarung in die Runde, Melindo sei eigentlich das Resultat seiner Affäre mit Damira, während Zelim sein legitimer Sohn sei. Die Aufdeckung dieser Lebenslüge löst nun bei allen Beteiligten dauerhafte Identitäts- und Beziehungskrisen aus.
Im Unterschied zu den Opern von Händel oder Monteverdi begegnet man den Bühnenwerken Vivaldis immer noch selten. Dabei hat der produktive «Prete rosso» an die hundert Opern komponiert. Doch sie gelten als langweilig, schematisch und auswechselbar. Vivaldi selbst ist an dem Vorurteil nicht unschuldig, hat er doch die Rezitative oft von Schülern vollenden lassen, Werkkürzungen oder -verlängerungen angebracht, Arien ausgetauscht oder gar bestehende Arien wiederverwendet. Kurzum: Vivaldis Partituren sind alles andere als unantastbare Werke, sondern Rohfassungen, die der Bearbeitung bedürfen.
Die Zürcher Fassung von «La verità in cimento» kürzt zu Recht bei den Rezitativen, lässt einige Arien aus und verändert, als Haupteingriff, das Ende: Anstelle des Schlusschores, der ein reichlich unglaubwürdiges «lieto fine» herbeiführt, singt Zelim, der einzige Überlebende dieser Familientragödie, eine tieftraurige Arie aus der Vivaldi-Oper «L'incoronazione di Dario».
Der dunkle Flur
Mit dem Italiener Ottavio Dantone liegt die musikalische Interpretation in den Händen eines in alter Musik erfahrenen Dirigenten. Durch das Orchestra La Scintilla, die Barockformation des Opernhausorchesters, erweckt Dantone die Partitur zu blühendem Leben, schärft die Kontraste, charakterisiert die unterschiedlichen Bühnenfiguren sinnfällig und grundiert mit einem stets kräftigen und variantenreich ausgeführten Generalbass.
Die Handlung entfaltet sich als Kammerspiel in verschiedenen Räumen des Hauses. Sie liegen alle in einer Linie nebeneinander und können seitlich verschoben werden, so dass der Zuschauer meistens in zwei oder drei von ihnen blickt. Der Regisseur nützt das geschickt, indem er parallel zur gesungenen Erzählung, etwa im Esszimmer, eine stumme Nebenhandlung im Salon zeigt. Eine besondere Bedeutung kommt dem dunklen Flur zu, wo die Figuren ihre Verstellung für kurze Momente ablegen und ihre wahren Gefühle zeigen. Raffiniert ist Glogers Umgang mit den stereotypen Dacapo-Arien. Bei den Wiederholungsteilen betreten die Protagonisten oft einen andern Raum, um dort zu denselben Worten eine veränderte Gefühlslage zu offenbaren. So prallen Schein und Sein, Lüge und Wahrheit unmittelbar aufeinander.
Der doppelte Kuss
Wenn die Rosane von Julie Fuchs mit ihrem leichten und verführerischen Koloratursopran zur Arie «Solo quella guancia bella» anhebt, strahlt sie im Esszimmer ihren Bräutigam Melindo an. Beim Dacapo tritt sie in den Flur und lässt sich dort von dem ebenfalls in sie vernarrten Zelim küssen. Der Melindo des Countertenors Christophe Dumaux ist ein standesgemäss gekleideter junger Mann, selbstbewusst und cholerisch – und mit einer phantastischen Stimme! Zelim, eine Hosenrolle, wird von Anna Goryachova als melancholischer Jüngling gezeigt. Der Mamud von Richard Croft verfügt über eine weiche Tenorstimme, die er ganz unheldisch einsetzt. Der Regisseur zeigt ihn als erbärmlichen Charakter, der mit seiner späten Reue alle Beteiligten und sich selbst in den Abgrund zieht. Seine Ehefrau Rustena, gesungen von Wiebke Lehmkuhl, gibt die Rolle der betrogenen Gattin mit Verdrängungsmechanismen. Eine sensationelle Besetzung ist schliesslich die Damira von Delphine Galou. Einen Höhepunkt der Aufführung bildet ihre Arie «Se l'acquisto di quel soglio», bei der sie sich den ganzen Frust der Ex-Geliebten und der um ihren Lohn geprellten Mutter in einer furiosen Szene von der Seele schreit.