Die Jahreszeiten der Liebe

Herbert Büttiker, Der Landbote (27.05.2015)

La verità in cimento, 25.05.2015, Zürich

Vivaldi hat nicht nur «Die vier Jahreszeiten» ­komponiert. «La verità in cimento» lässt den zu seiner Zeit ­famosen Opernschreiber neu aufleben. Der neue Jubel hätte ihn sicher gefreut, über sein Stück hätte er sich auch gewundert.

Wer kennt sie nicht? Manchmal blitzt sie auf, die Assoziation zu den «Vier Jahreszeiten», zu den Fanfaren des Frühlings, der lastenden Schwere der Sommerhitze, dem rhythmischen Powerplay der Herbststürme – der unverkennbare Vivaldi-Ton prägt den Abend im Opernhaus. Und man hat es hier auch mit Bläsern und virtuosen Gesangstimmen zu tun, mit einem agilen En­sem­ble und dem Orchester «La Scintilla», das unter der Leitung von Ottavio Dantone mit starkem Bassfun­dament so farbenprächtig wie rhythmisch temperamentvoll spielt und obligate Begleitungen (Blockflöte!) virtuos zur Geltung bringt. So ist für viel musikalischen Reiz gesorgt, obwohl von einem kurzen Terzett und Quintett abgesehen eine Arie nach der anderen vorgetragen wird.

Doch was heisst hier vortragen? Der Vielschreiber Vivaldi hat mit «La verità in cimento» einen pfiffigen Text vertont, mit witzigem und geschärftem Rezitativdialog und szenischem Witz. Dass es der Inszenierung gelingt, daraus Vollbluttheater zu machen, das den Bogen von der Satire zum Trauerspiel schlägt, spricht nicht nur für das Inszenierungsteam, sondern auch für die Vorlage.

Alles geht kaputt

Am Ende sind zwei Tote zu beklagen, eine Frau krümmt sich im Weinkrampf, die andere ist in ein esoterisches Nirwana weggetreten, einer steht verzweifelt im Scherbenhaufen, und der Urheber des ganzen Malaises, Sultan Mamud sitzt selber ramponiert in der demolierten Villa, die der Bühnenbildner Ben Bauer so schön und detailtreu im Opernhaus Zürich aufgebaut hat.

Der Sultan im exotischen Indien der Vivaldi-Oper ist in der Inszenierung von Jan Philipp Gloger Unternehmer und Oberhaupt einer wohlhabenden Familie un­serer Tage und Kultur: In den Marmorwänden des Büros ist der Tresor eingelassen und stapeln sich die Bilder des Kunstsammlers. In der Garage glänzt der neue Porsche 911, der treue Fetisch, wo sonst alles schon verloren ist.

Mamuds Frauengeschichten aber sind die alten, zugespitzt zugegeben wie in einem überdrehten Schwank: Gattin (Rustena) und Geliebte (Damira) bringen am gleich Tag von ihm ein Kind zur Welt. Er vertauscht die beiden, um die Geliebte, die als Hausangestellte ein obskures Leben im Schatten seiner Familie führt, mit der Aussicht auf das glanzvolle Leben ihres gemeinsamen Sohnes (Melindo) als Erbe und Geschäftsnachfolger zu trösten. Die Gemahlin ihrerseits weiss nicht, dass ihre abgöttische Mutterliebe dem Kind der Rivalin gilt, während das eigene (Zelim) absturzgefährdet im Abseits heranwächst.

Zerstörerische Wahrheit

Jetzt aber, am Vortag der Hochzeit seines offiziellen Sohnes mit Rosane, die – so viel Verwicklung muss sein – auch Zelim schon bezirzt hat, will Mamud reinen Tisch machen: «Die Wahrheit kommt auf den Prüfstand.» Damit beginnt die Oper, und man erlebt über drei Akte, wie sich das Li­bretto-Konstrukt unter diesem ­Titel in der Inszenierung als realistische, musikalisch wie psychologisch stark konturierte Familienkonstellation darstellt.

Während allerdings die venezianische Oper ordnungsgemäss im Lieto fine endet und weil ein vernünftiger Kompromiss gefunden wird, dafür nicht einmal ein Deus ex Machina anreisen muss, kommt dieser in der veränderten Handlung im Zürcher Opernhaus direkt aus der Pistole geschossen. Zwei Schüsse lösen den Knoten zeitgemäss im bösen Ende eines Amokdramas.

Eine Überforderung

Vivaldi hätte sich gewundert. Seine Arienwelt kennt zwar alle Affektgrade bis zur Koloraturen­raserei, aber man fühlt am Ende zu deutlich, dass die Drastik der Ereignisse von dieser Musik nicht mitgetragen wird. Man tritt gleichsam ins Leere, abgenabelt vom Geist des 18. Jahrhunderts mit seinem berührenden wie erheiternden Blick ins Affekt-Laboratorium und nicht angekommen in der psychologisch entfesselten Musiksprache der Moderne. Aber der Dämpfer am Ende mag der Preis sein für einen starken darstellerischen Auftritt des En­sem­bles, das Da-capo-Arien und Charakterisierung der Figuren immer wieder wunderbar in eins setzt und auf spannende und zeitgemässe Art gleichsam alle Jahreszeiten der Liebe auffächert.

Kontrastreiches En­sem­ble

Richard Croft gibt mit fundiertem Tenor den ebenso autoritären wie schwachen Patron, Wiebke Lehm­kuhl mit altistischer Sanftheit die verhärmte Gattin, die sich zu Blockflötentrillern ins einfache Hirtenleben sehnt. Delphine Galou bringt virtuos Damiras exzessive Theatralik für falsche Muttergefühle ge­gen­über Zelim, im erotischen Rückzugsgefecht mit Mamud und im Zweckbündnis mit Rustena ins Spiel, fulminant, wenn auch gar wildwüchsig in der stimmlichen Attacke.

Diese beherrscht Christophe Dumaux geschliffen im engen Kaliber seines Countertenors und von den Trompeten angefeuert, wenn sich der verwöhnte und selbstbewusste Melindo so richtig in Szene setzt. Im Kontrast zu ihm gibt Anna Goryachova mit beweglichem und klangvoll strömendem Mezzosopran den melancholisch verbitterten Konkurrenten um den Platz in der ­Familie. Zur eindrücklichsten Figur wird dieser auch mit dem schönen Lamento, das aus einer an­deren Vivaldi-Oper entlehnt anstelle des Finalchors die Oper schwerblütig beschliesst – ein sängerisches Highlight.

Berührende Stimmen

Konkurrenz um den Preis der schönsten Stimme des Abends macht ihr einzig die Sopranistin Julie Fuchs. Für die Figur der kapriziösen Rosane steht ihr ein frischer Sopran mit Glanz und Verve zur Verfügung, und köstlich zeigt sie, wie die zielstrebige junge Frau ihren Liebeszauber so naiv wie unverblümt dazu einsetzt, sich ­alle Optionen für eine prestigeträchtige Ehezukunft offenzuhalten. Das wirkt in dieser perfekten Verkörperung so althergebracht wie gegenwartsnah.