Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (27.05.2015)
Mit «La verità in cimento» wird erstmals eine Vivaldi-Oper im Zürcher Opernhaus gezeigt.
Die schönste Arie ist die letzte, die eigentlich gar nicht in diese Oper gehört. Dirigent Ottavio Dantone hat sie in authentisch barocker Manier aus Vivaldis «L’incoronazione di Dario» geklaut, und sie passt perfekt: als Abgesang auf alle Hoffnungen, die gehegt worden waren an diesem Abend. Es waren Hoffnungen auf Liebe, Macht oder Stabilität. Darauf, endlich das schlechte Gewissen loszuwerden. Oder die anderen zumindest so lange instrumentalisieren zu können, bis die eigenen Träume erfüllt sind. Zelim singt diese Arie, der Sohn, der als Sieger und legitimer Erbe aus der Geschichte hätte hervorgehen sollen. Aber die anderen hätten alle mit einstimmen können.
Kein Happy End also, den Gepflogenheiten der Vivaldi-Zeit zum Trotz. Stattdessen steuert man in «La verità in cimento» («Die Wahrheit auf dem Prüfstand») erstaunlich geradlinig in die Katastrophe. Nichts da von all den Konfusionen, die sonst jede barocke Handlungszusammenfassung zum Albtraum machen. Eine einzige Intrige löst alles aus, respektive ein Fehltritt von Mamud, einer «erfahrenen Führungspersönlichkeit» (so die zeitgemässe Übersetzung für den originalen König). Dieser Mamud hat zwei Söhne, einen mit der Gattin, einen mit dem Dienstmädchen. Um das Dienstmädchen ruhigzustellen, hat er ihr einst versprochen, ihren Sohn als Erben aufwachsen zu lassen, und deshalb die beiden Säuglinge vertauscht. Nun, 25 Jahre später, geht es um die Nachfolgeregelung, und auch um eine Hochzeit, und Mamud will endlich aufräumen mit seiner Lebenslüge. Was natürlich dem Dienstmädchen nicht passt, und auch nicht der Gattin, die ihren vermeintlichen Sohn so sehr vergöttert, dass sie ihm nach einer besonders virtuosen Arie eine Medaille umhängt.
Jede Pause ein Verrat
So geschieht, was in jeder Barock-Oper geschehen muss: Die Emotionen geraten aus dem Gleichgewicht, die echten wie die vorgetäuschten. Mutterliebe, Sohnesliebe, überhaupt Liebe: Nichts ist mehr, was es war, niemand weiss, wer er wirklich ist. Und wer Vivaldis Musik je für eindimensional gehalten hat, wird von Ottavio Dantone eines sehr viel Besseren belehrt. Er hat das überlieferte musikalische Gerüst mit stilsicherer Fantasie ausgepolstert und mit doppelten Böden ausgestattet. Jede Verzierung kann eine Lüge bedeuten, jede Pause einen Verrat. Selbst die schönsten Töne, die das von Dantone am Cembalo geleitete Orchestra La Scintilla spielt, sind weit mehr als nur schön; die Musik ist in jedem Takt szenisch gedacht.
Und Regisseur Jan Philipp Gloger hat genau hingehört. Immer wieder übersetzt er Klänge in Gesten; dann streckt etwa der abservierte Erbe Melindo seinem Rivalen ganz im Einklang mit den Violinen die Zunge heraus. Vor allem aber erzählt Gloger die Geschichte so, dass aus dem barocken Verwechslungsspiel ein erstaunlich aktuelles Familiendrama wird. Ein kleiner, historisch durchaus korrekt ausgeführter Trick machts möglich: Etliche Rezitative wurden gestrichen, und damit auch Informationen, die die Handlung verunklart hätten. Was übrig blieb, liess sich mühelos vom fernen Orient (der schon 1720 eine Chiffre war für die venezianischen Aktualitäten) in eine protzige Villa übertragen, die so auch am Zürichberg stehen könnte.
Schlafzimmer, Esszimmer mit Ausgang auf die Terrasse, Korridor, Büro mit dunklen Marmorwänden, Garage mit silbergrauem Porsche: In diesen Räumen spielt die Geschichte, und Ben Baur hat sie für einmal nicht auf eine Drehbühne gestellt, sondern auf eine Schiebebühne. Immer wieder andere Teile der Wohnung werden ins Zentrum gerückt, und dabei oft auch Figuren, die gerade nicht singen, aber dem Regisseur helfen, die Da-capo-Arien sinnvoll auszufüllen. Sie tun es zielgerichtet, ohne den für Vivaldi-Inszenierungen so typischen Aktionismus – und verwandeln sich dabei von barocken Prototypen in komplexe Charaktere. Melindo etwa braucht sich nach Rosanes Kuss nur den Kragen seines von Karin Jud ausgewählten weissen Poloshirts zu richten, um sich als Muttersöhnchen zu entlarven. Rosane wiederum absolviert die Yoga-Übungen ihrer Schwiegermutter in spe so übereifrig, dass sofort klar wird, worum es ihr geht: Schon ein bisschen um die Liebe. Aber nur, wenn sie mit sozialem Aufstieg verbunden ist.
Liebe mit Kalkül
Dargestellt wird diese Rosane von der Ensemble-Sopranistin Julie Fuchs, die einmal mehr vorführt, wie expressiv Koloratur-Akrobatik sein kann. Gekonnt und vergnügt mixt sie Liebe und Kalkül, und wenn das Publikum lacht, was oft vorkommt an diesem Abend, hat es meist mit ihr zu tun. Auch der Rest des Ensembles ist ideal besetzt: Wiebke Lehmkuhl berührt als enttäuschte Gattin der erfahrenen Führungspersönlichkeit im Duett mit einer Blockflöte (wobei die Wiederholung mit den schmerzlich schönen Verzweigungen der eigentlich parallelen Partien zugleich das schönste Beispiel für Dantones Verzierungskunst ist). Delphine Galou als Dienstmädchen ist abgefeimter, schlauer, hysterischer als ihre Kontrahentin – und setzt ihre Altstimme entsprechend kantig ein.
Auch die Söhne sind denkbar unterschiedlich. Countertenor Christophe Dumaux gibt mit nicht besonders voluminöser, aber umso wendigerer Stimme den entthronten Melindo. Und Anna Goryachova in der Hosen- respektive Hoodie-Rolle des Zelim darf man als Überraschung des Abends feiern: So weit ihr Vibrato vom Klangideal Dantones entfernt sein dürfte, so innig fühlt sie sich ein in diese Musik, dieses Ensemble, diese Rolle. Dass die letzte Arie die schönste ist, liegt nicht nur an Vivaldi.
Blasser bleibt Richard Croft als Söhne-Vertauscher Mamud, und auch das hat seine Berechtigung. Ein warmer, nicht immer ganz sicherer Tenor und eine leicht nuschelige Aussprache passen perfekt zu einem, der sich um alle Entscheidungen herumdrückt. Am Ende pützelt er hingebungsvoll seinen Porsche, in dem er sich das Leben nehmen will, was er dann doch nicht tut. Andere sind da beherzter, und so ist die Bilanz nach zweieinhalb Stunden die folgende: zwei Tote und vier Verzweifelte auf der Bühne. Und im Saal schätzungsweise drei Buhrufer und 1097 Begeisterte.