Familienbande

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (23.06.2015)

I Capuleti e i Montecchi, 21.06.2015, Zürich

Vincenzo Bellinis Oper «I Capuleti e i Montecchi» ist eine «Romeo und Julia»-Vertonung und ein Juwel der Belcanto-Tradition. Das Opernhaus Zürich verhilft dem Werk endlich zu seinem Recht.

Die Bühnenwerke des Belcanto sind die Stiefkinder der Operngeschichte. Das Elend beginnt bereits mit dem Begriff «Belcanto». Er hat sich teilweise so weit verselbständigt, dass heutzutage alles Singen, Seufzen und Schmachten in der italienischen Oper als «Schöngesang» etikettiert wird. Dabei endet die Glanzzeit dieser eigentümlichen Opernform bereits mit dem Auftreten Giuseppe Verdis, der sogar als Zerstörer des Belcanto im engeren Sinne gescholten wurde. Tatsächlich beeinflusste Verdis naturalistische Ausdrucksästhetik die Wahrnehmung entscheidend. Denn sie liess die in den Werken des Belcanto bis zum Exzess zelebrierte Sangeskunst als zirzensische Selbstdarstellung und geschmackliche Verirrung erscheinen. Dass man diese Stücke freilich auch viel uneitler und tiefsinniger deuten kann, zeigt das Opernhaus Zürich in einer losen Reihe mit Opern von Vincenzo Bellini. Auf «La Straniera» von 2013 folgte jetzt im Rahmen des Shakespeare-Schwerpunkts der Zürcher Festspiele die Romeo-und-Julia-Oper «I Capuleti e i Montecchi».

Seltsame Häuslichkeit

Mit Shakespeare hat Bellinis Oper von 1830 indes nur am Rande zu tun. Das Libretto von Felice Romani orientiert sich vielmehr an italienischen Quellen und verlegt den bekannten Familienkonflikt zurück ins 13. Jahrhundert, mitten hinein in die Auseinandersetzungen zwischen Guelfen und Ghibellinen. Womit wir bei der zweiten Besonderheit wären: Bellinis Oper ist mitnichten ein Zweieinhalb-Personen-Stück, in dem sich die bekannten Protagonisten in endlosen Liebesgesängen ergingen, sondern ein Sippendrama mit erstaunlich hohem Choranteil. Und drittens schliesslich wird der Romeo wider Erwarten nicht von einem Tenor gesungen, auch nicht von einem Kastraten, sondern dezidiert von einer Frau «en travestie», nämlich einem Mezzosopran.

Für die Regie stellen alle diese Besonderheiten erhebliche Herausforderungen dar, und die zeittypische Umwidmung der männlichen Hauptpartie zur Hosenrolle ist darunter nicht die kleinste. Christof Loy, der schon die «Straniera» inszenierte, konzentriert sich klug auf den Clan-Konflikt, indem er das Geschehen ausschliesslich im Haus von Julias Vater Capellio spielen lässt, dem Oberhaupt der Capulets. Der Ausstatter Christian Schmidt hat Loy dafür eines jener drehbaren Horror-Häuser für Unbehauste gebaut, in deren kalten, verwohnten Zimmern schlechthin alles möglich erscheint, selbst das übelste Verbrechen.

Tatsächlich hat sich Capellio, etwas zu harmlos gesungen von Alexei Botnarciuc, offenbar an Julia in deren Kindertagen vergangen. Loy deutet diesen Missbrauch in mehreren Nebenhandlungen im Hintergrund oder bei Fahrten der unablässig kreisenden Drehscheibe an. Eine kühne Hypothese – und leider in neueren Musiktheaterproduktionen inzwischen etwas inflationär bemüht. Doch hier dient die daraus erwachsene Täter-Opfer-Bindung, durchaus einleuchtend, als Erklärung für die seltsame Häuslichkeit der Julia. Selbst im Äussersten wird sie es nämlich nicht schaffen, ihr liebloses Elternhaus (in dem zu allem Überfluss auch noch die tote Mutter herumspukt) zu verlassen. «Hier hält mich eine Macht, die stärker ist als die Liebe», singt sie, wie zur Erklärung, im ersten Akt.

Tränen mitten im Duell

Olga Kulchynska verkörpert diese erzwungene Passivität bei ihrem Haus- und Rollendebüt als Julia mit packender Intensität. Sie ist eine «femme fragile», lange bevor man den Begriff erfand, in der doch, tief im Innersten ihres Herzens, das Feuer der Leidenschaft lodert. Genau so singt sie ihre fordernde Partie: niemals veräusserlicht, nie auf den virtuosen Effekt bedacht, aber mit glühendem, von innen heraus leuchtendem Stimmklang und stupender Technik. Sie befindet sich dabei in wunderbarem Einvernehmen mit Generalmusikdirektor Fabio Luisi, der den überwiegend begleitenden Orchesterpart ganz zurücknimmt und durch zurückhaltende Tempi den verinnerlichten Ton von Kulchynskas Interpretation verstärkt.

Der aktive, handelnde Part in dieser Konstellation ist der Romeo von Joyce DiDonato. Schon mit dem ersten Inkognito-Auftritt als Friedensbote im Haus der verfeindeten Capulets macht dieser Romeo klar, dass er mit vollem Einsatz spielt und um seine Liebe zu Julia kämpfen wird, und sei es um den Preis des eigenen Lebens. Joyce DiDonato entwickelt sich auch sängerisch zum Kraftzentrum der Produktion, nachdem sie ein anfängliches nervöses Flackern in der Höhe in den Griff bekommen hat. Ihr energiegeladener, fordernder, auch hörbar reiferer Ton steht komplementär zu dem reinen, fast instrumental geführten Sopran Kulchynskas. Doch in ihrem grossen Liebesduett – das eher eine leidenschaftliche Diskussion als ein Unisono-Schmachten ist – und vor allem dann im gemeinsamen, eigentlich absurden Tod in der Schlussszene finden beide zu einem lyrischen Einklang, der den Lauf der Zeit anzuhalten scheint.

Dieses Verlangsamen der Zeitempfindung ist eine der genuinen Errungenschaften von Bellinis Opern, die den Bellini-Verehrer Richard Wagner gefesselt haben dürften: Die Macht der Musik verschafft dem Ausdruck der Gefühle den ihnen gebührenden Raum und hält währenddessen die reale Handlungszeit gleichsam in einer Schwebe. Fabio Luisi am Pult besitzt ein hohes Mass an Sensibilität für diese Zaubermomente. Er lässt sie mit ruhiger Hand wirken und atmen. Aber auch die Regie verfällt nicht in Aktionismus, wie man es oft bei handlungsarmen Opern erleben kann; Loy hat vielmehr den Mut zu eindrucksvollen Tableaus, die für sich selber sprechen.

Loy weiss freilich, wie Luisi, auch um die Gefahr des Stillstands. So baut er gezielt Gegenkräfte auf. Einer dieser Gegenpole ist der Tebaldo von Benjamin Bernheim. Der junge Tenor singt den Romeo-Rivalen mit Aplomb, aber auch mit einer Sensibilität, die begreiflich macht, dass beide Männer mitten im Duell in Tränen ausbrechen, als die Nachricht vom vermeintlichen Tod Julias hereindringt. Der andere Gegenpol ist der Chor, der sich in die verfeindeten Clans aufteilt. Die Sängerinnen und Sänger lassen keine Zweifel daran, was die eigentliche Bedeutung des Worts «Familienbande» ist.