Sigfried Schibli, Basler Zeitung (23.06.2015)
Vincenzo Bellinis Oper «I Capuleti e i Montecchi» am Opernhaus Zürich
Unter den Meistern des italienischen Belcanto-Zeitalters gilt Gioacchino Rossini als der witzigste, Gaëtano Donizetti als der innovativste und Vincenzo Bellini als der melodischste. Der Sizilianer Bellini, der nur 24 Jahre alt wurde, hat der Welt so bedeutende Opern wie «Norma» (heuer an den Salzburger Festspielen zu erleben) und «I Capuleti e i Montecchi» geschenkt. Es ist eine Variante des Shakespeare-Stoffs um Romeo und Julia beziehungsweise um den verzweifelten Versuch, die alte Familienfehde zwischen den Capulets und den Montagues mit einer individuellen Liebesbrücke beizulegen.
Diese eher selten zu hörende Oper – in Erinnerung ist eine Basler Produktion mit Sonia Theodoridou und Marianne Rørholm – hatte jetzt am Zürcher Opernhaus Premiere und wurde aufs Heftigste beklatscht. Dies nicht ohne Grund: Mit der jungen Ukrainerin Olga Kulchynska als Giulietta und der erfahrenen Amerikanerin Joyce DiDonato in der Hosenrolle des Romeo waren die beiden Hauptpartien glänzend besetzt. DiDonatos Stimme ist von unerhörter Durchschlagskraft und kennt zugleich verführerische lyrische Farben, während die erst 25-jährige Kulchynska ihre halsbrecherischen Koloraturen scheinbar ohne Anstrengung meisterte.
Liebe zur Linie
Ungemein stimmstark, wenn auch rhythmisch nicht immer stabil, war Benjamin Bernheim als Tebaldo – der Mann, dem Giulietta eigentlich versprochen ist und der so zum Rivalen des Romeo wird. Alexej Botnarciuc singt mit gealterter Stimme Giuliettas Vater Capellio, das Oberhaupt der Capuleti, Roberto Lorenzi den Arzt Lorenzo, der vom Vertrauten des Capellio zum Verbündeten des Romeo und damit zum Verräter wird. Generalmusikdirektor Fabio Luisi, ein erklärter und erfahrener Bellini-Liebhaber, hatte das Orchester Philharmonia Zürich und weitgehend auch den zu Beginn etwas schleppenden Chor fest im Griff. Er liess zu, dass sich die oft langen, weit ausschwingenden Melodiebögen Bellinis entfalten konnten, und gab auch den vom Orchester wunderbar in den Raum gestellten Instrumentalsoli (Horn, Klarinette) den erforderlichen Atemraum. Musikalisch ist das zweifellos ein erstklassiger, ein festspielwürdiger Abend.
Die szenische Aufführung in der Regie von Christof Loy (Ausstattung: Christian Schmidt) beginnt mit einem bebilderten Vorspiel, in welchem die Hauptelemente der Handlung im Zeitraffer vorweggenommen werden: Liebe, Hochzeit, Kampf, Tod. Wir befinden uns in einem schmucklosen Palast vielleicht aus den Fünfzigerjahren, als Teakholz-Wände, schwere Ledersitzmöbel und Neonröhren noch zeitgemäss waren. Die Drehbühne ist unentwegt in Rotation, gibt den Blick frei auf ein nüchternes Büro, einen Lagerraum mit Stühlen, ein Badezimmer, später ein Schlafgemach. In diesem kalt funktionalen Ambiente hausen autoritäre Bürokraten, denen es mehr um Macht als um Menschlichkeit geht.
Schlaftrunk, Todestrank
Die Capulets fordern ihren Chef auf, niemals Frieden mit den Montagues zu schliessen – schliesslich hat Romeo im Kampf einen Sohn des Capellio getötet. Jetzt wirbt derselbe Romeo wider alle politische Logik um Giulietta, die Schwester des Getöteten. Er rast über die Bühne und wird von einer dunklen Gestalt zurückgehalten, die sich als ständiger Begleiter des Montague erweisen sollte. Diese stumme Figur – halb Schutzengel, halb Alter Ego – wird Giulietta den Schlaftrunk mixen, der sie in einen todesähnlichen Zustand versetzt, und Romeo den Giftbecher reichen, an dem er sterben wird, während Giulietta zum Leben erwacht.
Die Erfindung dieses Begleiters ist nicht die einzige Zutat des Regisseurs. Er spekuliert auch darüber, ob Giulietta vielleicht von ihrem Vater als Kind sexuell missbraucht worden ist – eine szenische Andeutung mit einem Mädchen-Double der Julia und ein Text im Programmheft legen diese Interpretation nahe. Freilich hat Loy ganz Ähnliches schon anlässlich seiner Basler Inszenierung der Oper «Daphne» von Richard Strauss gesagt. Wenn er uns bei seiner nächsten Inszenierung wieder den Kindesmissbrauch auftischt, darf man von einer modischen Masche sprechen.
Die Bilder sind betörend schön, aber einige Details sind dem Regisseur misslungen, so etwa die Szene mit dem todeswilligen Romeo, der mit einer Pistole in der Hand den Tebaldo auffordert, ihn zu töten. Und dass der Begleiter Romeos die scheintote Giulietta vom Bett auf den nackten Boden legt, möge goutieren, wer will.