Mit Liebe, Verstand und sehr viel Humor

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (17.01.2006)

Orlando, 15.01.2006, Zürich

Es ist zwar erst Halbzeit im Zürcher Opernhaus. Aber die Versuchung, Händels «Orlando» schon jetzt als beste Neuproduktion dieser Saison auszurufen, ist gross.

Ziemlich verdattert steht Orlando am Ende auf seinem Podest. Orden statt Liebe, Blumen statt Gefühle: So hatte er sich den Heldenruhm nicht vorgestellt. Umso glücklicher sind alle anderen. Angelica, weil sie Orlando mit Anstand losgeworden ist (jedenfalls einigermassen) und ihren Medoro gekriegt hat. Dorinda, weil sie Medoro zwar nicht gekriegt hat, aber dafür von Zoroastro betätschelt wird. Und das Publikum, weil es eine in jeder Hinsicht grossartige Aufführung erlebt hat. Der Kritikerin bleibt nur, dem Loblied sechs Strophen anzufügen.

1. Georg Friedrich Händel. Viele Komponisten haben Ariosts «Orlando furioso» als Vorlage genommen, Händel selber gleich drei Mal. Die Gattungsbezeichnung dieser Werke lautet jeweils Opera seria, was Regisseure heute, da Heldenmut und entsagende Liebe etwas aus der Mode gekommen sind, gern als Opera ironica verstehen. In Händels «Orlando» klappt das besser als anderswo. Die Geschichte eines Kriegers, der aus Liebeskummer wahnsinnig wird und die Geliebte nach wundersamer Heilung grossmütig ziehen lässt, ist musikalisch mit allerlei doppelten Böden ausgestattet. Wahre Gefühle müssen manchmal geheuchelt werden, Wahnsinn ist zuweilen gar keiner. Und von den langen Tönen über bewegter Begleitung, zu denen Händel wie kein Zweiter schwärmen und leiden lassen kann, bekommt man sowieso nie genug.

2. Jens-Daniel Herzog. Liebe, Angst Ruhm, Verstand: Über diese Begriffe doziert Chefarzt Zoroastro, im Original noch ein Zauberer, zu Beginn des Stücks. Eine Analyse von Herzogs Inszenierung nach seinen Prinzipien würde ergeben, dass sie mit Liebe und Verstand entworfen wurde - und dass Zoroastro unbedingt auch den Humor in seinem Weltentwurf berücksichtigen sollte. Denn klüger, liebevoller, witziger liesse sich die Geschichte kaum für heutige Gemüter übersetzen: Wir befinden uns in einem Sanatorium (weil Wahnsinnige da nun mal hingehören in aufgeklärten Zeiten), in den 1910er-Jahren (weil der Ausstatter Mathis Neidhart die geschmackvolle Extravaganz offensichtlich schätzt). Schon die Bühne erzählt eine Geschichte: Aus den edel bespannten Wänden schieben sich längs und quer Korridore in den Raum, ein Bett wird herausgeklappt oder Zoroastros Wandtafel ausgestellt. Labyrinthartige Gänge entstehen so, wenn die Konstellationen kompliziert werden, oder auch ein gnadenlos klares Quadrat, wenn Orlando der abtrünnigen Angelica mit der Axt hinterher ist.

So einleuchtend der Ort, so stark ist die Personenführung. Jens-Daniel Herzog erzählt die Geschichte (und viele weitere Geschichten) unaufgeregt, detailfreudig, mit feinem Gespür für die Musik. Dass manche Metaphern ein wenig seltsam wirken im neuen Umfeld, schadet nichts: Sollen Angelica und Medoro doch die Bäume und Blumen besingen, die es hier nirgends gibt. Irgendwie (und die Offenheit ist nicht die geringste Qualität der Inszenierung) sind ja auch sie Insassen dieser Anstalt.

3. William Christie. Gesungen wird italienisch in dieser Oper, die 1733 in London entstanden ist; aber wenn der amerikanische Wahlfranzose Christie dirigiert, klingt alles irgendwie französisch. Ausgeprägte Punktierungen, flüssige Tempi, kleine, leichte Verzierungen: Das kennt man von seinen Rameau- oder Charpentier-Aufführungen, das bewährt sich auch bei Händel. Schwung- und kraftvoll, mit silbernem Klang musiziert das operneigene Barockorchester La Scintilla, die Funken sprühen namensgerecht, und die Geschmeidigkeit der getragenen Linien ist betörend: So elegant ist noch selten einer in den Wahnsinn begleitet worden.

4. Marijana Mijanovic. Da lässt sich auch die Darstellerin des Orlando nicht bitten. Wie maskulin die serbische Altistin zumal in der Tiefe klingen kann, hat sie schon öfter vorgeführt, auch ihre herbe Bühnenpräsenz ist bekannt. Hier zeigt sie nun zusätzlich, wie ungemein irr sie wirken kann. Flackernder Blick, fahle Töne, plötzliche Aggressivitätsschübe - das wirkt bedrohlich, Mitleid erregend und Respekt heischend zugleich. Mijanovic singt schneidend kalt oder mit überströmender Wärme, ruhig selbst in den turbulentesten Passagen und gespannt in den ruhigen. Und sie wirkt nicht einmal dann lächerlich, wenn sie durch hochvirtuose Koloraturen jagt, während ihr ein Pfleger die Schuhe putzt (auch die Statisten hätten eine Strophe in diesem Loblied verdient).

5. Janková, Peetz, Clark, Groissböck. Orlandos Liebe gilt Angelica, und man kann ihn verstehen. Martina Janková singt hinreissend, sieht mit ihren weissblonden Locken ebenso aus, und schauspielerisch ist sie besser denn je. Wie sie das Beleidigtsein beim Stillen eines Nasenblutens zelebriert, ohne dabei die vokale Konzentration zu verlieren, ist schlicht grandios. Dagegen hat selbst Christina Clarks Dorinda keine Chance, obwohl sie mit ihrem vögelchengleichen Sopran und dem durchaus freizügigen Anlehnungsbedürfnis immer wieder in Medoros Blickfeld gerät.

Auch dieser hat gegenüber Angelica einen schweren Stand, nicht nur, wenn er ihr wortwörtlich unterliegt; die Sopranistin Katharina Peetz, die in dieser Männerrolle nicht so hoch singen darf wie die Frauen und auch nicht so tief wie Orlando, hat die undankbarste Partie in diesem Stück - und schafft dennoch ein facettenreiches Porträt. Zoroastro schliesslich, der Drahtzieher der ganzen Geschichte, verfügt nicht nur über einen substanziellen Bass, sondern auch über jene Chefarzt-Gesten, die man aus Vorabendserien kennt (Kugelschreiber am Mundwinkel, wissend-besorgtes Stirnrunzeln): Günther Groissböck, 30 Jahre alt und seit letzter Saison in Zürich, erweist sich nicht zum ersten Mal als Glücksfall fürs Ensemble.

6. XY. Es bleiben ein paar Zeilen für das Lob der Bühnentechnik. Ohne die reibungs- und lautlose Wändeverschieberei ginge manche Pointe verloren - dank ihr wirkt dieser «Orlando» so musikalisch, leichtfüssig und stringent, wie er gedacht ist. Noch sieben Wiederholungen gibt es in dieser Saison, man sollte sie nicht verpassen.