Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (23.06.2015)
In Vincenzo Bellinis selten gespielter Oper «I Capuleti e i Montecchi» werden Romeo und Julia von zwei Frauen gesungen. Das Premierenpublikum im Zürcher Opernhaus war begeistert.
Es gebe Stärkeres als die Liebe, singt Julia, nämlich «die Macht der Pflicht, des Gesetzes und der Ehre». Ein erstaunlicher Satz, gerade von ihr: Immerhin ist sie die eine Hälfte des berühmtesten Liebespaares der Kulturgeschichte. Und starb sie nicht den traurigsten aller Tode für ihre Liebe zu Romeo?
Oft ist diese Geschichte erzählt, fast so oft auch vertont worden. Es gibt Dutzende von Opern und Instrumentalwerken, Musicals und Popsongs über Romeo und Julia, die gelegentlich auch anders heissen (Tony und Maria etwa, in Leonard Bernsteins «West Side Story»). Vincenzo Bellinis Oper «I Capuleti e i Montecchi», die 1830 in Venedig zur erfolgreichen Uraufführung kam, ist eine der seltsamsten Versionen. Die Liebenden sind da fast nicht wiederzuerkennen: Romeo gäbe zwar alles für seine Giulietta. Aber Giulietta hat Angst, vor dem Vater, dem Leben, den Gefühlen, sich selbst. Sie kann nicht fliehen. Die sauber gebündelten Kleider, die sie in Christof Loys Zürcher Inszenierung nur so mal zum Ausprobieren aufs Bett legt, versorgt sie bald wieder in den Schrank.
Das Mädchen und der Vater
Mitten in der sogenannten Liebesszene sind wir da, Giulietta hatte sich eben noch nach Romeo verzehrt, den sie lange nicht gesehen hat, da kommt er plötzlich durchs Fenster gestiegen – und alles ist fremd. Keine Umarmung, nicht mal eine Berührung tauschen die beiden. Romeo fleht und tobt, als müsste er sich selbst von dieser Beziehung und seinen Fluchtplänen überzeugen. Und Giulietta ist wie gelähmt. Die Sehnsucht nach Liebe war einfacher als die Liebe selbst.
Bellini und sein Librettist Felice Romani haben das verblüffend klar dargestellt, in kaum einer damaligen Oper sind die Figuren mit so viel psychologischer Tiefenschärfe gezeichnet. Und Christof Loy benennt das Trauma, das hier angedeutet ist. Von Ausstatter Christian Schmidt hat er sich eine kahle, kalte, mit erdrückend schwerem Holz getäferte Montecchi-Wohnung auf die Drehbühne bauen lassen. Und mit der Bühne geraten auch die Zeiten in Bewegung: Man sieht die kleine Julia im Badezimmer, den Vater hinter sich. Julia, wie sie auf dem Bett sitzt und mit leerem Blick an einer Haarsträhne dreht, als Mädchen schon, als Braut immer noch. Oder wie sie zwischen den Toten steht, die die Familienfehde in all den Jahren gefordert hat. Liebe? Nein, die wird in einem solchen Umfeld schon in den Ansätzen vermurkst.
Die Frau und der «Mann»
Man hört es auch, und das ist eine weitere Seltsamkeit in diesem Stück. Bellini hat nämlich Romeo mit einer Mezzosopranistin besetzt, als Hosenrolle also, wie sie damals eigentlich längst aus der Mode gekommen war. Liebhaber hatten im 19. Jahrhundert Tenor zu singen, so wie Giuliettas vom Vater verordneter Bräutigam Tebaldo. Aber Giulietta will keinen Tenor, sie will überhaupt keinen Mann, der mittreibt an dieser Spirale der Gewalt. Romeo klingt fast wie sie selbst, nicht bedrohlich also. Und wenn sich die beiden schon im Leben nicht finden können, dann immerhin im Gesang: Wenn Bellini ihre Stimmen verschmelzen lässt, erhält man für einen Moment tatsächlich eine Ahnung von Glück.
Auch weil die beiden Rollen in dieser Aufführung ideal besetzt sind. Die Überraschung des Abends ist die Russin Olga Kulchynska, 25 Jahre jung, Mitglied des Bolschoi-Ensembles. Als Giulietta pflegt sie den klassischen Belcanto: mit ellenlangen Linien, mit aufleuchtenden und wieder verlöschenden Tönen, mit einer Expressivität, die gleichzeitig kunstvoll ausgestaltet und berührend ist.
Ganz anders der Superstar dieser Produktion, die Amerikanerin Joyce DiDonato: Auch sie beherrscht zwar die bis ins letzte kleine Beben kontrollierte Innigkeit. Aber öfter setzt sie als Romeo aufs Drama, auf die unmittelbare, die Grenzen des schönen Gesangs sprengende Emotionalität. Da kann es vorkommen, dass ihre Stimme bricht in der Tiefe oder überschnappt in der Höhe, dass sie schrill wird oder knapp neben die angepeilte Tonhöhe gerät. Es geht hier nicht um eine perfektionistische Kunst, sondern um theatralische Wahrheit, und DiDonato liefert sie (nur bequemere Stiefel hätte man ihr gegönnt, in den kniehohen Flachsohlen wirkte ihr Gang weit hölzerner als ihr Gesang).
Die Männer können da nicht mithalten. Zwei kleinere Rollen hat man – überraschend für eine glamouröse Festspielpremiere – an Absolventen des Internationalen Opernstudios vergeben: Roberto Lorenzi, der ab der kommenden Saison fest zum Zürcher Ensemble gehören wird und als Lorenzo die Liebenden zu retten versucht, verfügt über einen geschmeidigen, aber etwas matten Bassbariton. Immerhin hat er als einziger Italiener in dieser italienischen Oper jene sprachliche Selbstverständlichkeit zu bieten, die insbesondere dem Moldawier Alexei Botnarciuc abgeht. Er gibt Giuliettas Vater, eine durch und durch ungute Gestalt, und gewissermassen passt sein leicht mulmiger Bass dazu. Dass Bellini nicht zu seinen Spezialitäten zählt, war dennoch nicht zu überhören.
Auch Benjamin Bernheim tut sich schwer mit diesem heiklen Stil. Er gibt den Tebaldo, der Giulietta heiraten soll und will und eigentlich alles andere als ein Schurke ist. Man hört es zwischendrin, wenn er seine Stimme zurücknimmt, sie zart und weich werden lässt. Allzu oft aber klingt sie übersteuert, zu martialisch, zu laut. Das gilt auch für den von Jürg Hämmerli vorbereiteten Chor: Natürlich, das sind ungehobelte Kerle, die sich da seit Generationen bekriegen. Aber Belcanto wird nicht lebendiger, wenn er hinausgeschrien wird.
Die Liebenden und der Tod
Keiner weiss das besser als der Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi. Er setzt sich seit längerem für verkannte Belcanto-Opern ein, in Zürich hat er zusammen mit Christof Loy bereits Bellinis «La straniera» aufgeführt. In «I Capuleti e i Montecchi» schafft er mit der Philharmonia Zürich nun das, was auf der Bühne (noch) nicht immer gelingt: die Balance zu halten zwischen Theater und Abstraktion, zwischen zugriffigem Spiel und entrückter Schönheit, zwischen Musik und Psychologie. In elegischen Kantilenen sehnen sich die Soloinstrumente ebenso nach Glück wie Romeo und Giulietta, überraschende harmonische Wendungen ziehen den Liebenden den Boden unter den Füssen weg. Und kaum hat das Orchester den Montecchi-Männern so richtig eingeheizt, verstummt es beim ersten Auftritt der Giulietta. Ganz allein singt sie, ohne Begleitung: Mehr Einsamkeit geht nicht.
Nur der Tod, der ist immer da. Er sei sein ständiger Begleiter, singt Romeo einmal, und als solchen hat ihn Loy auf die Bühne gebracht. Schwarz und schmal und androgyn folgt der Tänzer Gieorgij Puchalski den Liebenden, reicht Giulietta den Schlaftrank und Romeo das Gift. Es könnte manieriert wirken, wenn es nicht so gut passen würde zu den Kunstgriffen, mit denen schon Bellini die Geschichte über jeden Realismus hinausgehoben hat. Bis hin zum Ende, das für Romeo in einer der ergreifendsten (und längsten) Todesszenen der Operngeschichte kommt. Und für Giulietta so eigenartig offen bleibt.
Die Zürcher Inszenierung allerdings weiss, wie es weitergeht. Loy lässt Giulietta leben, sie kann nun mal nicht weg hier. Und wird noch viele Jahre an ihrer blasser werdenden Haarsträhne drehen.