Bruno Rauch, Die Südostschweiz (24.06.2015)
Im Rahmen der Festspiele Zürich inszeniert Christof Loy Bellinis «Romeo und Julia»-Vertonung: mit einer Subtilität, die betroffen macht und Bezüge zu aktuellen Situationen schafft, ohne sie explizit zu formulieren.
Im Rahmen des Festspielthemas «Geld, Macht, Liebe» werden die Zürcher Bühnen – und die Leinwand des Filmpodiums – mit Shakespeares Liebestragödie «Romeo und Julia» überflutet. Das Opernhaus trägt mit Vincenzo Bellinis tragedia lirica «I Capuleti e i Montecchi» eine im Wortsinn andere Version dazu bei.
Anders, weil die 1830 in Venedig uraufgeführte Oper nicht auf dem Stück des Elisabethaners basiert. Erzählt wird nur der Kern des Dramas. Das Personal ist drastisch reduziert: das unglückliche Liebespaar, Julias Vater, der zum Bräutigam bestimmte Tebaldo und ein Arzt, der gewissermassen die shakespearesche Amme und Bruder Lorenzo in sich vereint.
Im Gegenzug hat Regisseur Christof Loy einen stummen Begleiter eingeführt: eine androgyne Gestalt – Tutor, Tröster, Todesengel? Jedenfalls verleiht der Tänzer-Schauspieler Gieorgij Puchalski dem enigmatischen Wesen eindringliche Empathie.
Anders ist Bellinis Oper auch, weil dem Paar der liebestrunkene Überschwang in der feindlichen Umwelt gründlich abhandengekommen ist. Die Expansion der Gefühle ist einer resignativen Verinnerlichung gewichen. Immer wieder fällt der Blick auf die Opfer der Sippenfehde, die Gefallenen, die den mörderischen Gang der Handlung säumen.
Einziger Schauplatz ist der Palazzo Capuleti, einst wohl reich und elegant ausgestattet. Doch jetzt nur noch freudlose Behausung, vom Bühnenbildner Christian Schmidt in raffiniertem Wechsel auf die Drehbühne gestellt. Passend dazu auch seine zeitlosen Kostüme in erdigen, grauen und schwarzen Farbtönen, die sich selten zu Weiss aufhellen – in Julias Braut- und Leichengewand.
Über allem liegt der Schleier der Austerität; kein Bild, keine Pflanze, lediglich ein paar wie vergessene Möbel, welche die einstige Funktion der Räume erahnen lassen: Schlafzimmer, Studierzimmer, Saal, Flur und Badezimmer, wo bezeichnenderweise sogar der Spiegel – Reflexion und Wahrnehmung des eigenen Ichs – über dem Lavabo fehlt.
Nicht plakativ
Loys Personenführung setzt die werkimmanente Schwermut äusserst durchdacht ins Bild, ohne plakativ und überdeutlich zu werden. Sie belässt den Figuren ihr Geheimnis, schafft aber ein seelisches Clair-Obscur, wie es sich in Bellinis Partitur fast kontemplativ manifestiert.
Schon im Vorspiel wird das geistige Klima im Haus Capulet evoziert, streng ritualisiert und einen väterlichen Missbrauch andeutend. Was sich im späteren Duett zwischen den Liebenden zum Verdacht verdichtet: Julia, geradezu pathologisch an ihre Sippe gekettet, kann dem Drängen Romeos zur Flucht nicht folgen. Zärtlichkeiten zwischen den beiden bleiben zwanghaft ausgespart, was mit Bestürzung an heutige Tragödien mit politischem, ethnischem oder systemischem Hintergrund denken lässt.
Bis zum Todesseufzer
Romeo begegnet zu Beginn seinen Widersachern zwar noch mit kämpferischer Attitüde. Bald jedoch obsiegt seine selbstzerstörerische Natur. Joyce DiDonato zeichnet den psychologischen Weg des kurzen Aufbegehrens bis hin zur Selbstaufgabe mit erschütternder Konsequenz. Ihr satter Mezzosopran entbehrt zu Beginn nicht einer – durchaus passenden – Schärfe und Eindringlichkeit, wird aber zunehmend weicher und biegsamer, bis er im nur noch gehauchten Todesseufzer verklingt.
Die kaum 25-jährige Olga Kulchynska ist die Entdeckung des Abends. Mit gerundetem Klang und betörendem Legato gibt sie Selbstzweifeln und Ängsten der gebrochenen Julia beseelten Ausdruck. Im Männertrio sticht naturgemäss der Tenor von Benjamin Bernheim mit viriler Leuchtkraft und selbstsicherem Aplomb heraus. Roberto Lorenzi leiht dem Arzt seinen sonoren Bariton als Stimme der Besonnenheit im fulminant auftrumpfenden Chor der Kriegstreiber. Alexei Botnarciuc als Vater Capulet vermeidet zwar das Profil eines allzu despotischen Patriarchen, bleibt aber insgesamt etwas blass.
Farbenreich und nuanciert dagegen agiert das Orchester. Unter Fabio Luisis Dirigat erblühen die sprichwörtlichen unendlichen Melodiebögen, die exquisiten Bläsereinsätze, die martialischen Fortissimi ebenso wie die expressiven Lyrismen: Klang gewordener Schmerz ohne Larmoyanz.