In neun Liebesminuten liegt das ganze Leben

Christian Berzins, Schweiz am Sonntag (28.06.2015)

I Capuleti e i Montecchi, 21.06.2015, Zürich

War ich bloss ausgehungert, weil ich 20 Tage lang keine Oper gesehen hatte? Jedenfalls war ich so weltumarmend zufrieden, als ich Mittwochnacht das Opernhaus Zürich verliess, dass es meine Pflicht als Opernkritiker ist, hier jubelnd von diesem Festspielabend zu erzählen.

Festspielabend – richtig, in Zürich gibts zurzeit tolle Festspiele! Seit allerdings Zürich die tumbe Sechseläutenwiese weggemäht und sich einen Weltstadtplatz geschenkt hat, ist jeder Gang ins Opernhaus ein Festspiel. Die Piazza della Scala vor der Mailänder Oper ist ein Dorfplatz dagegen.

Doch hinein ins Haus, wo zu Beginn trotz allerlei hoch ästhetischem Bühnenzauber 23 Minuten Sterbenslangeweile herrschte. So blass war der Beginn von Vincenzo Bellinis «Capuleti e Montecchi» alias «Romeo und Julia», dass ich schon bald meine Tricks aus Kolumne I vom 7. September 2014 («Wie überlebe ich einen schlechten Opernabend?») anzuwenden begann. Sie wissen schon: Ganz tief ins Orchester hineinhören und so . . .

Unnötig, denn 19.24 Uhr fallen Blitz und Donnerschlag zusammen, die Amerikanerin Joyce DiDonato betritt die Bühne. Zehn Minuten lang ist Zürich das beste Opernhaus der Welt.

Noch hat die 46-jährige Amerikanerin den Mund gar nicht aufgemacht, kann nicht mal ihre weiblichen Reize ausspielen, steht sie doch in hohen Stiefeln und Krawatte auf der Bühne, da sie eine sogenannte Hosenrolle singt: Mezzosopran spielt Mann. Nicht irgendeinen Mann, sondern Romeo, den Jahrhundertliebhaber! Für eine DiDonato eine willkommene Herausforderung.

Dann, endlich, singt sie. Technische Kabinettstückchen noch und noch. Doch jeder Bellini-Ton erblüht voller Emotionen. Darin spiegeln sich Tränen des Hasses, wenn die flammende Freude der Rache sich in Romeo entzündet. Erhaben wie die Abenddämmerung in Napoli klingen die fatalen Liebesworte. Das Grossartigste: Singt DiDonato nicht mehr, folgt man weiterhin ihrem bebenden Atem. Die Intimität dieses Aktes ist fast peinlich, aber darf nicht hinterfragt werden. Das ist wie mit der Liebe.

Nebenbei: Balzac schrieb, dass in einer Liebesstunde ein ganzes Leben liege. Oder in neun Minuten? Im Finale nämlich ist der Blick auf die Bühne eine lustvolle Tortur. Romeo hat sich ob der «toten» Julia voller opernhafter Verzweiflung vergiftet, sieht aber noch, wie seine Julia aus dem künstlichen Todesschlaf erwacht. Letzte Worte («Lebe und komm manchmal vorbei, um an meinem Grab zu weinen»). Tränen. Vorhang. Jubel.