Oliver Schneider, DrehPunktKultur (26.06.2015)
Das Opernhaus Zürich ist heute (und war es schon unter Alexander Pereira) ein Ort, an dem Bellini seinen festen Platz hat. „I Capuleti e i Montecchi“ mit Joyce DiDonato als Romeo beschließt die Opernsaison in Zürich.
Vincenzo Bellinis weitgespannten Gesangslinien und die musikalische Ausgestaltung des Innenlebens seiner Protagonisten mögen weniger spektakulär erscheinen als Rossinis zum Teil oberflächliche Auszierungen und Koloraturen oder auch Donizettis Wahnsinnsszenen. Aber es ist gerade Bellini, der das Tor zur Weiterentwicklung der Oper seinen Nachfolgern in Italien, Frankreich und auch Richard Wagner weg von der Nummernoper aufgestoßen hat.
In Zürich eröffnete vor zwei Jahren Fabio Luisi einen neuen Bellini-Zyklus mit „La Straniera" und Edita Gruberova in der Titelrolle. Aktuell steht Bellinis zweites Musiktheaterwerk „I Capuleti e i Montecchi“ auf dem Spielplan. Just deshalb, weil es zumindest entfernt mit Shakespeare zu tun hat, der heuer im Mittelpunkt der Zürcher Festspiele steht. Nur entfernt, weil sich der Librettist Felice Romani in erster Linie an zeitgenössischen italienischen Sprech- und Tanztheater-Bearbeitungen orientierte. Außerdem verlegte er die Handlung in die Zeit der Machtkämpfe zwischen den Ghibellinen und den Guelfen Mitte des 13. Jahrhunderts. Romeo führt die Montecchi als Vertreter der Ghibellinen an, während Giuliettas Familie den Guelfen anhängt.
Bellinis Werke sind wegen ihres Mangels an allzu viel äußerlichem Tamtam – klar, es gibt auch lärmige Chorszenen, für die Jürg Hämmerli den Chor des Hauses gut vorbereitet hat – wie geschaffen für einen Psychologen wie Christof Loy. Er wagt bereits in der Introduzione einen Blick in die Jugend Giuliettas, die schon als junges Mädchen vom Vater missbraucht worden ist (im weißen Firmungskleid!). In der Folge spielt Loy weiter mit den Zeitsprüngen: Immer wieder führt einen die permanent sich drehende Bühne zurück in die Vergangenheit und setzt Giuliettas Zaudern, mit Romeo zu flüchten, in den Kontext ihrer Biographie. Christian Schmidt hat für die Inszenierung eine Reihe trister Räume im Stil der fünfziger Jahre geschaffen, für die ihm ein ehemaliges Grandhotel in Südtirol Inspiration bot.
Durch den noch stärkeren Blick auf die weibliche Hauptfigur wäre „Giulietta“ wohl in Zürich der korrektere Titel für den Abend. Giulietta lebt in einer mafiösen Männergesellschaft, in der Frauen keine Rolle spielen. Bellini hat auch darauf verzichtet, eine zweite, echte Frauenpartie vorzusehen, Loy hat die Mutter wieder eingeführt, die als Stumme aber ihrer Tochter auch nicht beistehen kann. In dieser Männergesellschaft hebt sich Romeo stimmlich und als Charakter ab, denn er kann Giulietta etwas geben, was die anderen Männer nicht haben: Er kann lieben.
Doch auch Tebaldo, den Giulietta nach dem Willen ihres Vaters heiraten soll, ist bei Loy nicht einfach als Unmensch gezeichnet. Im Gegenteil: Spätestens als er gemeinsam mit Romeo vom vermeintlichen Tod Giuliettas hört, erkennt er die Sinnlosigkeit der Gewaltspirale zwischen den verfeindeten Sippen, hat aber nicht die Kraft, sie zu brechen. Loy ist einmal mehr gelungen, aus einer Belcanto-Oper einen tiefschürfenden Abend zu machen.
Festspielformat hat auch die Besetzung, auch wenn die ursprünglich als Giulietta angekündigte Anita Hartig nach der Violetta im Mai auch diese Partie abgesagt hat. Die junge Ukrainerin Olga Kulchynska, die zurzeit am Moskauer Bolschoi-Theater engagiert ist, ist ein hervorragender Ersatz, auch wenn ihre Stimme in der Höhe zur Verhärtung neigt. Stilistisch souverän und mit perfektem Legato harmoniert sie mit jener von Joyce DiDonato. Als Romeo kann sie die gesamte Palette ihres stimmdarstellerischen Ausdrucks ausspielen: als einfühlsamer Beschützer von Giulietta wie auch als flammender Anführer der Ghibellinen. Benjamin Bernheim ist ein beweglicher und höhensicherer Tebaldo, der die Partie mit seiner geschmeidigen und großen Stimme aufwertet. Roberto Lorenzi ist ein noch junger Lorenzo, Alexei Botnarciuc der harte Vater Capellio, der durch den Missbrauch seiner jungen Tochter noch unsympathischer wird.
Fabio Luisi am Pult der Philharmonia Zürich lässt Bellinis Melodien wunderbar ausschwingen und kann auch am Saisonende auf hervorragend intonierende Bläser zählen.