Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (07.09.2015)
Mit Benjamin Britten steuert das Theater Humor zum Lucerne Festival bei. Die Jugendrebellion in «Albert Herring» findet vor allem im Gesang statt.
Kann man die Spiessigkeit einer moralstrengen Gesellschaft vorführen, ohne selber spiessig zu wirken? Die Lösung, die Benjamin Britten in seiner komischen Oper «Albert Herring» wählte, ist aus heutiger Sicht eine gewagte Gratwanderung. Und bleibt es in der Neuinszenierung am Luzerner Theater, die gestern als Beitrag zum Lucerne-Festival-Thema «Humor» Premiere hatte.
Die notorischen Klagen über die verwahrloste Jugend in der englischen Provinz sind in der Vorlage so realistisch gehalten, dass dem Stoff auch der Mief der 40er-Jahre anhaftet, in dem die Geschichte spielt. Und dass sich kein Mädchen finden lässt, das man zur tugendhaften Maikönigin erküren könnte, nur weil sich alle mit Jungs vergnügen, wirkt hoffnungslos altmodisch.
Andererseits überzeichnet die Oper die Moralapostel zu klischeehaften Karikaturen, die als solche so zeitlos wirken wie die Musik, mit der das Luzerner Sinfonieorchester unter Howard Arman mit viel Pfiff und Schmelz alle möglichen Register zieht. Zudem nimmt das Werk in diesem Generationenkonflikt für die Jugend Partei, wenn der zum Maikönig gewählte Albert Herring nach der Feier ausreisst und sich von seiner Mutter emanzipiert.
Flirt im Sandkasten
Die Inszenierung von Tobias Heyder bleibt zunächst gefährlich nah am Realismus und spitzt ihn gleich noch einmal zu. Die Witwe als Hüterin bereits marod gewordener Moralvorstellungen, die Lehrerin, Bürgermeister, Pfarrer und Polizist – sie alle sind zugeknöpft in mausgrau-uniformierte Kostüme jener Zeit. Auch die Bühne bedient mit Gemüseauslagen oder Schulpulten putzige Enge. Wenn da nur nicht der Sandkasten als zentrale Spielfläche wäre.
Im Schutzraum des Sandkastens nämlich leben auch die Erwachsenen bei Heyder verstohlen ihre Triebe und Sehnsüchte aus. Wenn die Lehrerin hartnäckig dem Bürgermeister nach und zu Leibe rückt oder der Polizeichef mit Herrings Mutter in den Untergrund hinuntersteigt, wird klar, welches Feuer hinter den Fassaden schwelt.
Ehemalige und Neue im Ensemble
Flammen schlagen daraus an diesem Abend nicht. Aber die Spannung, die sich dadurch ergibt, bringt ein starkes Gesangsensemble packend zum Ausdruck. Überraschende Akzente setzen zwei ehemalige Ensemble-Mitglieder, die in dieser letzten Spielzeit von Intendant Dominique Mentha noch einmal zu hören sind – Caroline Vitale als fulminante Mutter und Madelaine Wibom als sittenstrenge Lady Billows. Wibom gibt die Witwe nicht nur darstellerisch mit furchterregendem Schneid, sondern mit einer Stimme, die genau den richtigen scharfen Ton findet, wenn sie dramatisch hochfährt und alle in den Senkel stellt. Unter den neue- ren Ensemblemitgliedern ragen Carla Maffioletti als spitzmäulig-verklemmte Schulvorsteherin und Alexandre Beuchat mit strömendem Bariton hervor.
Problematischer ist die Zurückhaltung der Regie im Fall der Jugendlichen. Utku Kuzuluk bleibt selbst als vom Alkohol enthemmter Herring ein zauderhaft sinnierender Rebell, auch wenn er seine Stimme aufblühen, ironisch flöten und energisch aufbegehren lässt. Wie systematisch die Dressur betrieben wird, zeigen die Singproben für das Maikönigslied: Wie Judith Galliker, Marina Polli und Esteban Umiglia (Kinderdarsteller der Luzerner Kantorei) zwischen schrillem Ton und falschem Pomp hin und her wechseln, ist ein komischer Höhepunkt des Abends.
Der aufbegehrenden Jugend – schillernd: Marie-Luise Dressen und Todd Boyce als Liebespaar – verweigert Heyder freilich, was er im Programmheft verspricht: Der «Rausch der Gefühle und Hormone» findet an diesem Abend lediglich vokal und lodernd expressiv in den grossen Ensembles statt.