Barocke Liebe bis zum Wahnsinn

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (17.01.2006)

Orlando, 15.01.2006, Zürich

Georg Friedrich Händels wenig bekannte Oper «Orlando» wird erstmals im Zürcher Opernhaus gespielt. Das Premierenpublikum nahm am Sonntagabend die Barockoper begeistert auf.

Allmählich mausert sich das Opernhaus Zürich zu einer Spezialbühne für die Barockoper. Was mit Nikolaus Harnoncourt begonnen hat - die Spezialisierung einiger Orchestermusikerinnen und -musiker auf historische Instrumente im hauseigenen Orchester La Scintilla -, treibt nun interessante Blüten. Neben Marc Minkowski gelingt es auch William Christie, in Zürich eine echte Händel-Fangemeinde aufzubauen. Die Premiere von Händels «Orlando» am Sonntagabend wurde jedenfalls begeistert aufgenommen.

Authentische Spielpraxis

Eines der zentralen Probleme bei Barockopern ist die Inszenierung. Wie geht man heute mit all den allegorischen und mythologischen Figuren und Spielorten um? Anders als bei der musikalischen Umsetzung, die mit authentischer Spielpraxis eine klanglich und rhythmisch ausgesprochen reizvolle Interpretation gewährleisten kann, wirken die Regieanweisungen von damals eher naiv. Zudem ist auch die Sängergestik von einst eine ganz andere als im heutigen Regietheater.

Entsprechend gross war beim «Orlando» die Erwartungshaltung der Regie gegenüber. Händels «Orlando» ist nämlich eine ausgesprochene «Zauberoper», welche die einst so spektakulären Bühneneffekte mit dem Zauberer Zoroastro so richtig zelebriert. Zudem spielt die Geschichte in einer Ritterwelt, ist Orlando doch ein Held, der an der Liebe wahnsinnig wird. Dazu gehören auch die ländliche Idylle, die Natur, das fliessende Bächlein, der Lorbeerwald, welche die naive Seele der Schäferin Dorinda symbolisieren. Diese beiden Figuren wurden eigens für dieses Opernlibretto zur Geschichte vom «Rasenden Roland» hinzuerfunden.

Sanfte Modernisierung

Regisseur Jens-Daniel Herzog und Ausstatter Mathis Neidhardt entschieden sich für eine sanfte Modernisierung. Sie verfrachten die Geschichte in eine Art «Zauberberg»-Sanatorium, das je nach Bedarf auch zur Irrenanstalt wird. Eine aufwändige Bühnenmaschinerie sorgt nicht für «Deus ex Machina»-Effekte, die der Zauberer auslöst. Sie schiebt auch hohe Wände lautlos hin und her, sodass das Einheitsbühnenbild «Sanatorium» mit seinen nobel tapezierten Wänden ohne Zeitverlust in labyrinthische Gänge verwandelt werden kann. So interessant dieses Grundkonzept ist - die Liebesverrücktheit wird so zum realen Irrsinn, der Zauberer zum nüchternen Arzt und die Szenerie zum klinisch kalten Einerlei - keine Spur mehr von Trugbildern und Zauberei.

Orchestrale Augenweide

Zum Glück wurde für diese Produktion der Orchestergraben hochgefahren. So konnte man William Christie und seine wunderbar atmende, eigenwillige Dirigiertechnik beobachten. Und auch die Musikerinnen und Musiker an ihren besonderen Instrumenten waren eine Augenweide. Was da an vielschichtigen Farben, an orchestralem Aufbrausen und kammermusikalischer Phrasierung, an feinster Detailarbeit und dramaturgischem Zug zusammenkam, war umwerfend. Diese musikalische Darbietung füllte denn auch den kargen, nüchternen Raum mit phantasievoller, den Wahn mit verblüffender Experimentierlust darstellender Klanglichkeit.

Die Sängerinnen und Sänger waren so musikalisch gut aufgehoben. Besonders gespannt war man auf das Debüt von Marijana Mijanovic, die mit tiefgründiger Altstimme den «Orlando» gab. Von Händel ursprünglich für den Star-Kastraten Senesino komponiert, fordert diese Monsterpartie ein aussergewöhnlich breites Spektrum an Ausdrucksqualitäten: heroische Bravourarien wechseln zu empfindsamen Gesängen, Resignation mit Wahnsinn, der auch musikalisch die Normen sprengt. Marijana Mijanovic sang den «Orlando» mit überzeugender Hingabe, erotischer Tiefe und virtuoser stimmlicher Agilität.

Lyrik und pralle Sinnlichkeit

Zu dieser einzigartigen weiblichen «Kastraten»-Stimme passte der lyrische und doch sehr vitale Sopran von Martina Janková ausgezeichnet. Sie verkörperte die prallsinnliche Angelika, die von Orlando nichts mehr wissen will und stattdessen mit dem dandyhaften Medoro ins Bett steigt. Sie spielte ihre Reize auch stimmlich mit farblichen Facetten und betörendem Charme aus. In der Hosenrolle des Medoro vermochte Katharina Peetz im Laufe des Abends mit zunehmender Präsenz und stilistischer Sicherheit zu gefallen.

In diesem recht eindimensionalen Regiekonzept wirkte vor allem Christina Clark in der Rolle der Schäferin Dorinda etwas verloren. Sie ist unsterblich und naiv in Medoro verliebt, wirkt aber als einfache Pflegerin im Sanatorium zu einfach, zu bescheiden. Auch nahm man ihr das plötzliche Aufflammen für den «irren» Orlando, der ihr eine Liebeserklärung macht, nicht ab. Stimmlich wusste sie aber mit graziler Leichtigkeit und zunehmender Charakterstärke eine eigene dramaturgische Kraft zu entwickeln.

Ein «vernünftiger» Zauberer

Für eine echte Überraschung sorgte schliesslich Günther Groissböck in der Rolle des «vernünftigen» Zauberers und Irrenarztes Zoroastro. Mit welcher Kraft und Agilität er die Koloraturen meisterte, und wie vielschichtig und farbenreich er die Partie ausgestaltete, das war einfach hinreissend.

Schade nur, dass die Regie nicht mehr Mut zum Kontrast und zur Wahn-Fantasie hatte. So wirkten nicht nur die Genien, die in Zürich allesamt zu Pflegerinnen und Pflegern wurden, eigenartig nüchtern und sachlich. Auch die Reduktion des Liebeszaubers auf prallen Sex wirkt zu direkt. In einer Zauberoper dürfte man ruhig etwas öfter mit den Augen zwinkern, als es in dieser musikalisch hochkarätigen Zürcher Produktion der Fall ist.