Bigotter Schein, befreites Sein

Michelle Ziegler, Neue Zürcher Zeitung (09.09.2015)

Albert Herring, 05.09.2015, Luzern

Benjamin Brittens Oper «Albert Herring» am Luzerner Theater

Die aristokratische Dame mit ihrem verzweifelten Sendungsbewusstsein, die im moralischen Korsett erstickende Schulvorsteherin, der redegewandte Pfarrer, der wortkarge Kommissar: Sie alle stehen für Typen einer erodierenden Gesellschaft. Eric Crozier verlieh den Figuren aus Guy de Maupassants «Le Rosier de Madame Husson» in seiner Vorlage für Brittens Kammeroper «Albert Herring» deshalb ausgeprägte Charaktermerkmale. Britten verstärkte die Zuspitzung in seiner Partitur durch Referenzen und Stilzitate und schuf recht eigentlich musikalische Karikaturen. Darin liegt der Reiz dieser Kammeroper. In Luzern, wo die Schweizer Erstaufführung durch die English Opera Group schon 1947 eine Britten-Tradition begründete, setzt eine Neuinszenierung, entstanden in Koproduktion des Luzerner Theaters mit dem Lucerne Festival, jetzt bei diesem Gesellschaftsbild an.

Verborgene Gelüste

Albert Herring, der Sohn der Gemüsehändlerin, sieht sich einer bigotten Dorfgemeinschaft gegenüber, die ihn mit ihren Erwartungen zu ersticken droht. Schon bevor er für sein tugendhaftes Betragen (und in Ermangelung geeigneter Kandidatinnen) zum «Maikönig» ernannt wird, reizt ihn die Vorstellung eines anderen, befreiten Lebens. Die Inszenierung von Tobias Heyder deutet in den Steinmäuerchen seines Ladens ein (emotionales) Gefängnis an, aus dem ihn die Kollegen Sid und Nancy herauslocken. Kurz zuvor war derselbe klar begrenzte Raum auch den Vertretern der älteren Generation immer wieder zu eng geworden. Heyder stellt uns eine Gemeinschaft vor, in der jeder ausbrechen möchte und jeder heimliche Liebschaften oder Gelüste hat. Den Spiessbürgern scheint als Abwechslung zur Langweile ihres klar geregelten Alltags fast alles recht – auch Alberts Verschwinden. Doch nach dessen Rückkehr und dem Geständnis seiner (harmlosen) Eskapaden stehen ihm allein seine Freunde zur Seite. Die Jugendlichen setzen sich für ein selbstbestimmtes Leben ein. Sie haben in dieser Kammeroper das letzte Wort.

Grauer Filz

Heyder schafft in Luzern mit einfachen Mitteln klare Verhältnisse: Neben dem Quadrat aus Steinmauern – das als Sitzbank, Sandkasten und Gemüsestand dient – in der Mitte der Bühne von Stefan Heyne dient ein erhöhter Abschnitt dazu, die Welten der Erwachsenen und der Kinder zu trennen. Der graue Filz der Kostüme von Janine Werthmann vermittelt (britische) couleurs locales, verweist aber auch auf die innere Ermattung im Kollektiv. Heyders Reduktion erlaubt einen Fokus auf all das, was Crozier seinerzeit zwischen die Zeilen geschrieben und Britten musikalisch angedeutet hat: das Unwohlsein des Polizisten, die verführerische Seite der strengen Mutter, die Annäherungsversuche der Lehrerin und ihre Affäre mit dem Bürgermeister.

In Luzern sind die Rollen dieser Gesellschaft am Rande des moralischen Zusammenbruchs überzeugend besetzt: Madelaine Wibom schwingt als unerschrockene Lady Billows zur Erlösung der Jugend ihr Kriegsbeil, das Albert später als Märtyrer kennzeichnet. Caroline Vitale erscheint als strenge Mutter, Carla Maffioletti als wunderbar überspannte Lehrerin, Szymon Chojnacki als verklemmter Polizeichef. Utku Kuzuluk vermag die Wandlung Albert Herrings auch stimmlich darzustellen und hat in Todd Boyce einen selbstsicheren Sid zur Seite. Howard Arman und das zwölfköpfige Ensemble aus Mitgliedern des Luzerner Sinfonieorchesters verleihen dem Gesellschaftsporträt die nötigen scharfen Konturen.