Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (15.09.2015)
Die Uraufführung von Alban Bergs «Wozzeck» 1925 war ein Meilenstein der Musik. Die Herausforderungen für die Interpreten sind seither nicht kleiner geworden, wie eine Neuproduktion in Zürich zeigt.
Giuseppe Verdi prägte einen berühmten Satz, der ins Zentrum der Opernästhetik weist: «Die Wahrheit nachbilden mag gut sein; die Wahrheit erfinden ist besser, viel besser.» Verdis Diktum richtete sich gegen die aufkommende Strömung des «Verismo», eine Art Radikal-Realismus, dem es um die möglichst wahrheitsgetreue Abbildung der sozial meist prekären Lebenswirklichkeit auf der Bühne zu tun war. Verdi setzte dem eine weniger unmittelbare, nämlich die Realität künstlerisch überhöhende Form des Ausdrucks entgegen. Auf überraschende Weise hilft Verdis Satz nun, Wohl und Wehe der Neuproduktion von Alban Bergs «Wozzeck» zu erkennen, mit der die Oper Zürich am Sonntag ihre neue Spielzeit eröffnete.
Puppen aus Fleisch und Blut
Die Produktion ist in jeder Hinsicht Chefsache: Generalmusikdirektor Fabio Luisi dirigiert die Philharmonia Zürich, der Intendant, Andreas Homoki, inszeniert. Und mit Christian Gerhaher war der führende Liedsänger unserer Zeit aufgeboten, der sich das eher intime Zürcher Haus für sein Debüt in der Titelrolle ausgesucht hatte. Beste Voraussetzungen also – und dennoch stimmt etwas nicht mit diesem Abend.
Homoki hat sich, man kann es nachlesen im Programmheft, viele Gedanken gemacht über das Realismusproblem im «Wozzeck». Dieses läuft, grob verkürzt, auf die Frage hinaus, ob man das himmelschreiende Elend eines armen Teufels, der durch die «Verhältnisse» zum Mörder gemacht wird, ungebrochen auf einer Opernbühne ausstellen darf, zur Erbauung, womöglich, eines sozial erwartbar bessergestellten Publikums. Homoki nennt dieses Ansinnen «obszön» und sucht sein Heil im genauen Gegenteil eines Abbild- oder Dokumentar-Realismus, nämlich in der extremen Stilisierung.
So wird das Drama des einfachen Soldaten Johann Christian Woyzeck, der um 1820 wirklich in Leipzig gelebt und seine Geliebte aus Eifersucht erstochen hat, hier einmal mehr zum Puppenspiel – allerdings zu einem Spiel mit sehr realen Puppen aus Fleisch und Blut. Im vergrösserten Kasperletheater von Ausstatter Michael Levine ist die gesamte Bühne umgeben von einem knallgelben Guckkastenrahmen, der sich im Lauf des Geschehens nach hinten vervielfacht, unablässig hin und her verschiebt und schliesslich spektakulär aus den Angeln kippt. Dies deutet an, dass wir die Handlung aus der Binnenperspektive der Titelfigur erleben.
Wozzeck (wie ihn Berg, dem Lesefehler der Erstausgabe von Büchners Dramenfragment folgend, nannte) sieht sich darin umgeben von lauter Karikaturen: einem Hauptmann, hinreissend scharf und verlogen charakterisiert von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, der sich als fettleibiger Napoleon-Imitator an den eigenen schönen Worthülsen erbaut; einem ruhmsüchtigen Doktor, von Lars Woldt mit geradezu lüsternem Voyeurismus und einer sadistischen «Ich war es nicht»-Mentalität ausgestattet, der kalt lächelnd inhumane Menschenversuche mit Mangelernährung an Wozzeck vornimmt und sich dabei an seinen – leider zutreffenden – Diagnosen («aberratio mentalis partialis zweite Spezies») weidet; und schliesslich vom Tambourmajor, dem Nebenbuhler um die Gunst seiner Freundin Marie, von Brandon Jovanovich zum Potenzprotz verknappt, der seine Haupt-Attraktivität in Gestalt eines kaum verhüllten Riesenphallus auf dem Kopfe trägt.
In der gekonnt plakativen Überzeichnung liegt freilich eine Gefahr: Die Figuren werden durch die Stilisierung in eine geschlossene, für sich bestehende Bühnenwelt entrückt – und gehen uns schon bald nichts mehr an. Leider betrifft dies auch die beiden Protagonisten, Marie und Wozzeck selbst. Da wir das Geschehen gleichsam mit den Augen des Erniedrigten und Betrogenen erblicken, erscheint Marie hier abwechselnd als mannstolles Luder und als herzlose Schlampe, die Wozzeck durch den offen vor allen a tergo vollzogenen Akt mit dem Protz-Major noch zusätzlich demütigt. Dass auch Marie, von Gun-Brit Barkmin mit expressionistischer Attacke gesungen, eine Frustrierte ist, dabei aber sehr wohl zur Selbstbesinnung und zur Reue fähig, wie sich in der grossen Bibelszene mit dem Gleichnis der Ehebrecherin im dritten Aufzug andeutet, muss hier zwangsläufig unterbelichtet bleiben.
Diffuses Rollenbild
Komplizierter liegen die Dinge bei Gerhahers Wozzeck. Christian Gerhaher hat bisher bei jeder seiner mit viel Bedacht ausgewählten Opernrollen deutlich gemacht, dass ihn als wissenden, skrupulös reflektierenden Interpreten die blosse realistische Darstellung eines Charakters wenig interessiert. Besonders eindringlich gelang ihm die bewusste Vertiefung einer Figur zuletzt in München, in der Rolle von Monteverdis Orfeo, den er durch einen verschatteten, in Weltschmerz und ahnungsvolle Prophetie gekleideten Ausdruck zum Sänger-Poeten des Untergangs machte. Im «Wozzeck» erscheint das Rollenbild diffuser: Er ist der traurige Clown, Kasperle und Bajazzo, zum Lachen verdammt; doch hinter seiner Marionettenmaske ist er auch ein brutaler Affekttäter, den Homoki mit der Figur des Joker aus «Batman» assoziiert. Und schliesslich erscheint dieser Wozzeck streckenweise als der einzig Normale in einem Irrenhaus voller lebendig gewordener Karikaturen. Dies alles ist selbst für einen Gerhaher ein wenig zu viel auf einmal. Anders als von Büchner und vor allem von Berg intendiert, erregt die Figur kein Mitgefühl – sie verstört, und Bergs Verklärungsmusik für einen Schuldlos-Schuldigen läuft ins Leere.
Problematischer ist, dass Gerhaher, wohl unter dem Überdruck von Rollendebüt und Premiere, wiederholt zu einem forcierten Forte-Ton Zuflucht nimmt, der zwar seinem lyrischen Bariton nicht akut schadet, aber seine eigentlichen Qualitäten als Sänger allerfeinster Sprachnuancen überdeckt. Dabei lässt ihm Luisi mit der den dichten Orchestersatz vorbildlich klar und rhythmisch präzise auffächernden Philharmonia durchaus den Raum dazu. Was dieser grosse Sänger vermag, zeigt er hier nur in einzelnen Phrasen und Schlüsselwörtern wie «Blut», «Mond», «Messer», allesamt in einem fast tonlos gehauchten Piano gesungen. Und doch eröffnet sich über den Schauer-Realismus des Augenblicks hinaus mit jedem Wort eine Welt: das Wissen um das existenzielle Elend der menschlichen Kreatur.