Händel in der Psychiatrischen

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (17.01.2006)

Orlando, 15.01.2006, Zürich

Frenetisch akklamierte schweizerische Erstaufführung von Händels «Orlando»
In der Händel-Renaissance spielt das Opernhaus Zürich seit Jahren an vorderster Front tonangebend mit. Mit «Orlando» setzt Regisseur Jens-Daniel Herzog einen neuen Höhepunkt.

Liebe macht nicht nur blind, Liebe macht auch verrückt. Wenn sich «amore», «paura», «gloria» und «ragione» im menschlichen Gehirn unkontrolliert zu widerstreiten beginnen, kann das zum Wahnsinn führen. In seiner wundersamsten Dichtung, im Ritterepos «Orlando furioso», hat der Renaissance-Poet Ludovico Ariosto dieser Verrücktheit ein herrliches Denkmal gesetzt. Die Grossen der Weltliteratur liessen sich davon beeinflussen, von Shakespeare und Goethe bis zu J. R. R. Tolkien und Umberto Eco. Auch für die Opernbühne war dieser Stoff ein gefundenes Fressen: Ausser Händel haben sich auch Lully, Vivaldi, Haydn und Scarlatti damit auseinander gesetzt.

Opernkomponist Georg Friedrich Händel griff gleich dreimal auf den «Orlando furioso» zurück: in «Orlando» und spâter in «Ariodante» und «Alcina». Für den «Orlando» liess er sich jenes Libretto neu einrichten, welches bereits Domenico Scarlatti vertont hatte; die Musik dazu - eine der farbenprächtigsten Opernpartituren Händels - schrieb er zwischen Oktober und November 1732, also in Monatsfrist. Die Titelpartie übernahm der berühmte Star-Kastrat Senesino; es sollte seine letzte Rolle in einer Händel-Oper werden.

Geschlossene Anstalt

Wahnsinn - wenn einer plötzlich verrückt spielt - wird spätestens seit Freuds tiefenpsychologischen Erkundungen des Menschen als Flucht aus der Wirklichkeit betrachtet, einer Wirklichkeit, die nicht mehr zu ertragen ist. Orlando, der ruhmreiche Kriegsheld, will aussteigen, will die Welt seiner Krieger-Karriere mit der Welt der Liebe vertauschen. Er will nicht mehr nur funktionieren, will, statt nur Maschine im Getriebe zu sein, ein Mensch werden.

Genau das inszeniert Jens-Daniel Herzog: die Tragödie eines Menschen, der an den gesellschaftlichen Wertesystemen von Karriere und Heldentum zerbricht - «Burn-out-Syndrom» heisst im heutigen Neudeutsch der pathologische Befund - und der in den verschwiegenen Wänden einer geschlossenen Anstalt (eines Sanatoriums oder einer psychiatrischen Klinik) Hilfe resp. Genesung resp. sanfte Wiedereingliederung in dieses gesellschaftliche Wertesystem sucht.

In dieser Psychiatrischen also - in Bühnenräumen von Mathias Neidhart - spielt Händels «Orlando», in der Bettenstation (Vierer-Belegung), in der Wäscherei, im Speisesaal; Räume gehobenen Standards mit der leicht angekratzten nostalgischen Patina von vor hundert Jahren, Korridore mit Fluchten von Türen und Tapetentüren. Ein geniales Einheitsbühnenbild, wo seitlich und vom Bühnenhintergrund herausfahrbare Wände sowohl grosse Raumverhältnisse, aber auch intime Räumlichkeiten zulassen.

Halbgott in Weiss

Zoroastro, den Händel zum Plot hinzuerfand (und bei Ariost nicht vorkommt), Zoroastro, der damals durchaus zeittypisch angelegt war als Aufklärer und Verwalter des Wissens, ein Halbgott der Ratio sozusagen, dieser Zoroastro ist hier ein Halbgott in Weiss: leitender Arzt der psychiatrischen Klinik. Er veranstaltet mit dem «ausgebrannten» Orlando ein psychiatrisches Experiment, lässt ihn sein Lieben, sein Versagen, seinen Wahnsinn in den geschützten Wänden der geschlossenen Anstalt nochmals erleben.

Zwingt ihm zu Beginn emen Kriegsfilm auf, und genau das ist das Ziel der Therapie: aus Orlando wieder einen ruhmsüchtigen Krieger zu machen. Zwingt ihm - durchaus im Sinn des aristotelischen Theaters - eine therapeutische Katharsis auf, eine innere Reinigung also, die ihn aus der vielfältigen Verstrickung seiner Affekte lösen und wieder funktionstüchtig machen soll. Denn jeder Aussteiger ist letztlich eine Gefahr für die Gesellschaft, besonders, wenns ihrer zu viele gibt.

Typisch barockes Experimentiertheater also, und das ist in dieser Inszenierung wohl am meisten zu bewundern: dass diese psychologische Innen- und Tiefenschau in die verschwiegenen Abgründe menschlicher Existenz als leichtgewichtiges Vorzeigetheater inszeniert wird. Die Grenzen zwischen Lebensernst, zwischen Wirklichkeit und Illusion, werden virtuos umspielt. Es darf auch gelacht werden: wenn Personen, die zur falschen Zeit auftreten, von Zoroastro mit Äther betäubt und dadurch für eine gewisse Zeit aus dem Verkehr gezogen werden; wenn sich zwei Nebenbuhlerinnen, die eine lachend, die andere weinend, Kissenschlachten auf der Bettenstation liefern.

Funktioniert das psychiatrische Experiment Zoroastros letztlich? Gelingt es ihm, «amore», «paura», «gloria» und «ragione» im Gehirn Orlandos wieder in ein funktionstüchtiges Gleichgewicht zu bringen? Zum Schluss wird Orlando als Kriegerstatue in die Höhe gefahren, die am Verwirrspiel Mitbeteiligten legen Blumensträusse nieder. Ist er zum Denkmal seiner selbst erstarrt? Genau diese Frage scheint sich Orlando selber zu stellen, nachdem die Musik ganz verklungen ist nun locker auf dem Denkmalsockel sitzend und sinnierend. Wunderschôn.

Eine Wucht an Sinnlichkeit

Und wunderschôn klingt es auch, im Orchester und auf der Bühne bei den Sängerinnen und Sängern. William Christie, der bereits eine tonangebende Einspielung von Händels «Orlando» vorgelegt hat, dirigiert die Barockformation des Opernhausorchesters, das Orchestra La Scintilla: ein hinreissend frisches, völlig unverkrampftes Musizieren. Da ist alles im Lot, die äusserst lebendige motivische Gestaltung, die geschickt mit ins musikalische Spiel gebrachte Theatralik, die beseelten Töne, die filigranen Feinheiten im Klang. Eine Wucht an Sinnlichkeit geht zudem vom Continuo aus: mit Brian Feehan (Theorbe), Claudius Herrmann (Violoncello), Benoit Hartoin (Cembalo) und Dieter Lange (Kontrabass).

Auf nur fünf Rollen beschränkt sich Händels «Orlando». In der Titelrolle Marijana Mijanovic, die prominente Fachfrau für heroische Altkastraten-Partien, die an Physis, Bühnenpräsenz und Gestaltungsintensität ihresgleichen in diesem Fach wohl kaum hat. Allerdings, ihre Stimme wirkt in der Höhe neuerdings etwas flatterig und flach und neigt gelegentlich zu forciertem Tremolo. Martina Janková dagegen verwöhnt als Angelica die Ohren der Zuhörer mit rundum vorbildlichern Händel-Gesang und ist darüber hinaus quirlig kokette Prinzessin mit unwiderstehlichem Verwöhncharakter.

Katharina Peetz bringt mit ihrer süssherben Mezzostimme beste Voraussetzungen für den Medoro mit, und sie stellt auch schauspielerisch ein echtes Mannsbild dar. Cristina Clark stattet die Partie der Dorinda mit subtil anrührenden Silbersoprantönen aus, und Günther Groissböck ist mit seinem markanten, gleichzeitig auch geschmeidigen Bass ein souveräner Zoroastro, agil in der Stimmführung, gewandt in den vielen Koloraturen - einer, der auch schauspielerisch alle Register zieht und alle Fäden in Händen hält, einen ganzen, genial gelungenen Opernabend lang. Wie gesagt: frenetischer Applaus für alle Beteiligten.