Oliver Schneider, DrehPunktKultur (29.09.2015)
Andreas Homoki und Fabio Luisi eröffneten die neue Saison im Opernhaus Zürich mit Alban Bergs Wozzeck: im Puppentheater. In der Titelpartie debütierte Christian Gerhaher.
Ein einsamer Buhrufer versuchte bei der Premiere seinem Unmut über die neue Inszenierung von Alban Bergs Meisterwerk in Zürich Luft zu machen. Doch er ging im allgemeinen Jubel für Andreas Homoki und sein Regieteam, Fabio Luisi und die gesamte Besetzung unter. Und der war berechtigt.
Homoki und sein Ausstatter Michael Levine haben die fünfzehn auf wahren Begebenheiten fußenden, bis aufs Äußerte verknappten Szenen nach Georg Büchners Drama in die irreale Welt eines Puppentheaters verlegt. Zwischen sich nach hinten verjüngenden gelben Rahmen, die sich im Laufe des Abends auch drehen und verzerren, erlebt man die Geschichte des Untermenschen Wozzeck, der getrieben von seinen paranoiden Mitmenschen zum Mörder und aus Ausweglosigkeit zum Selbstmörder wird – bei Berg/Büchner ertrinkt er eigentlich. Alle und alles ist bei Homoki grell gezeichnet. Der überkorrekte Hauptmann (messerscharf Wolfgang Ablinger-Sperrhacke), der Doktor, der Wozzeck vor lauter Ehrgeiz Wozzeck für seine pseudowissenschaftlichen Experimente missbraucht (kraftvoll Lars Woldt), der geile Tambourmajor (gut Brandon Jovanovich), dem Levine ein militärische Kopfbedeckung verpasst hat, die auch für etwas anderes durchgehen könnte. Die Frauen stehen den Männern in nichts nach: die rothaarige Marie und ihre exaltierte Nachbarin Margret, die im Innersten beide nur von einem besseren Leben träumen. Dankbar ist Marie, dass Wozzeck ihr den Experimentlohn vom Doktor und das Rasiergeld vom Hauptmann abliefert, und doch schmeiß sie sich dem erstbesten Tambourmajor an die Brust. Aus Verzweiflung, weil sie erkennt, dass Wozzeck so krank ist wie der Rest der Gesellschaft. Sie büßt dies mit dem Tod; Wozzeck schneidet ihr den Kopf ab, nachdem er sie noch einmal geküsst hat.
Selbstverständlich gibt es bei Homoki keinen blutroten Mond während der Mordszene, wie es im Libretto steht. Stattdessen hat Marie lange, feuerrote Haare. Als Wozzeck danach Margret in der Schenke sucht und sie ihn mit seinen Blutflecken am Arm konfrontiert, sieht Wozzeck sich von allen Seiten von Maries verfolgt. Homoki verwendet dieses Stilmittel mehrmals an diesem Abend, was gleichwohl nicht zur Abnutzung führt, sondern immer wieder Wozzecks Verfolgungswahn zurückruft. Teilweise lässt Homoki es nämlich so scheinen, dass alle außer Wozzeck in dieser Gesellschaft krank sind, so normal bewegt er sich unter seinen Mitmenschen.
Nach Wozzecks Ertrinken im Teich bleibt Mariens Sohn alleine zurück. Bis dahin lässt Homoki ihn nur als (echte) Puppe erscheinen. Nun steht er leibhaftig auf der Bühne: als neuer kleiner Wozzeck, der wiederum von einem kleinen Doktor, Hauptmann, Tambourmajor, einer kleinen Marie und ebenso kleinen Margret gequält und in den Tod getrieben wird. Auch in Zürich wiederholt sich die Geschichte; hier wird nicht krampfhaft nach einem anderen Ende gesucht.
Stellenweise mag der Abend durch das überzeichnete Spielen der Protagonisten ins Groteske kippen und Gefahr laufen, dass man die Perspektivlosigkeit der Menschen bagatellisiert. Aber zum Glück verhindert dies die Musik, die Fabio Luisi wahrlich mustergültig mit der Philharmonia Zürich interpretiert. Luisi bringt das gesamte facettenreiche Bild der reichen Partitur durchsichtig zum Ausdruck: Laut und gellend zu schreien scheint das Orchester, wenn sich der Hauptmann und der Doktor über Wozzeck lustig machen oder ihn der Tambourmajor mit Maries Betrug verhöhnt. Doch Luisi arbeitet nicht nur das Neue und das Expressionistische in Bergs Musik klar heraus, sondern macht auch deren Ausgangspunkt in der Spätromantik deutlich. Zum Beispiel in der Szene auf dem Feld, in der Wozzecks Freund Andres als eigentlich einziger „normaler“ Mensch in der paranoiden Gesellschaft eingeführt wird (mit interessantem Klangprofil Mauro Peter).
Für die Partie des Wozzeck ist ein Sänger mit in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Qualitäten nötig. Matthias Goerne, Simon Keenlyside oder Michael Volle sind Persönlichkeiten, die ihn in den letzten Jahren überzeugend interpretiert haben. In Zürich hat Christian Gerhaher sich in diese Liga gesungen und gespielt. Großartig ist, wie er den stimmlichen Anforderungen zwischen lyrischem und Heldenfach gerecht wird und wie er seine gesamte Erfahrung in der Textinterpretation als Liedsänger bei seinem Debüt zu nutzen weiß. Optimal ist auch die Besetzung der Marie mit Gun-Brit Barkmin, die wie Gerhaher extrem deutlich artikuliert. Ob Legato singend oder deklamierend, auch sie erfüllt alle Anforderungen. Auch die Klein- und Kleinstpartien sind sorgfältig besetzt, und Jürg Hämmerli hat den Chor und den Kinderchor des Opernhauses Zürich bestens vorbereitet.