Neue Rolle – neue Lesart

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (12.10.2015)

Norma, 10.10.2015, Zürich

Bellinis «Norma» mit Cecilia Bartoli am Opernhaus Zürich

Die Zürcher Erstaufführung der Salzburger Produktion von 2013 bildet den Startpunkt zu einer Europatournee. Dank Cecilia Bartoli in der Titelrolle gerät die Premiere zu einem grossartigen Erlebnis.

Lange hatte die Mezzosopranistin Cecilia Bartoli die Rolle der Norma nicht in ihrem Repertoire. Der Charakter der Titelpartie in Vincenzo Bellinis Oper «Norma» war im 20. Jahrhundert wesentlich von Maria Callas, der Starsopranistin des dramatischen Fachs, geprägt worden. Seit 2012 ist Bartoli – dank Alexander Pereira – künstlerische Leiterin der Salzburger Pfingstfestspiele. Und 2013 debütierte sie ebendort überraschend als Norma. Sie wollte damit zeigen, dass diese Rolle ursprünglich einen ganz anderen Charakter hatte, als sie dann im Verlauf der Aufführungstradition angenommen hat. Tatsächlich wurde die Titelfigur bei der Uraufführung der Oper im Jahr 1831 an der Mailänder Scala von Giuditta Pasta, einer Mezzosopranistin, gesungen.

Nach dem grossen Erfolg der Salzburger Aufführung war es der Wunsch von Cecilia Bartoli, mit der Produktion auf eine europaweite Tournee zu gehen. Sie konnte Andreas Homoki, den Intendanten des Opernhauses Zürich, dazu bewegen, die Tournee in Zürich starten zu lassen. Wohin die Reise danach geht, ist im Detail noch offen. Bis jetzt sind nur vier Aufführungen in Monte Carlo im Februar 2016 publik geworden. An der Medienorientierung vor der Zürcher Premiere hiess es, die übrigen Opernhäuser möchten ihre Beteiligung selber ankündigen. Dahinter verbergen sich vermutlich Schwierigkeiten mit der Technik, den Finanzen und der Verfügbarkeit der Künstler und des Orchesters. In Monte Carlo wirkt nämlich nicht La Scintilla unter Giovanni Antonini, sondern das Orchester I Barocchisti unter Diego Fasolis mit. Die Tournee wird von Universal Music Arts & Entertainment London veranstaltet. In Zürich ist die originale Salzburger Produktion zu sehen. Für die räumliche Anpassung von Christian Fenouillats Bühnenbild an das Opernhaus musste allerdings eine Vorbühne errichtet werden, wodurch ein grosser Teil des Orchesters darunter verschwindet.

Das Regieduo Moshe Leiser und Patrice Caurier verlegt die Dreiecksgeschichte um die gallische Druidenpriesterin Norma, ihre Nebenbuhlerin Adalgisa und den römischen Prokonsul Pollione ins Frankreich des Zweiten Weltkriegs. Pollione ist der Anführer der deutschen Besatzungsmacht, der Priester Oroveso, seine Tochter Norma und das gallische Volk werden zu Angehörigen der Résistance. Die Handlung spielt in einem Schulhaus, das als Versteck für die Partisanen dient. Abgesehen davon, dass dieser Ansatz recht beliebig wirkt, fehlt ihm auch die Konsequenz. Die Soldaten der Besatzungsmacht, die während der Ouvertüre im Hintergrund patrouillieren, sind am Schluss längst vergessen. Das Feuer, in dem die Landesverräterin Norma und der inhaftierte Pollione verbrannt werden, entzünden die Partisanen selber.

Musikalisch stützt sich die Produktion auf die quellenkritische Neuausgabe des Werks von Maurizio Biondi und Riccardo Minasi. Diese stellt die Originalversion mit ihren Tempi und Lautstärken wieder her, entfernt einige später hinzugefügte Spitzentöne und macht gängige Streichungen rückgängig. Hingegen ist es nicht so, dass Bellinis Original Norma als Mezzosopran und Adalgisa als Sopran vorsah. Die Tonarten sind in der Neuausgabe nämlich weitgehend unverändert, und beim ersten Frauenduett singt Norma die obere Stimme, Adalgisa hingegen die untere.

Dass sich Bartoli bei den hohen Tönen anstrengen muss, nimmt man aber gerne in Kauf, weil ihr dunkles Timbre, ihre stimmliche Beweglichkeit und ihre reife Ausstrahlung für die im Stich gelassene Geliebte ausgezeichnet passen. Und ihre Identifikation mit der Rolle ist schlicht sensationell. Umgekehrt eignet sich der helle, leichte Sopran von Rebeca Olvera überaus gut für die Darstellung der jungen Priesterin Adalgisa, die von Pollione verführt wird. Mit John Osborn ist der römische Prokonsul hier nicht, wie üblich, durch einen tenore eroico, sondern durch einen leichteren und beweglicheren Tenor repräsentiert. Das könnte ihn eigentlich einnehmend machen, aber die Regie tut alles, um ihn als unsympathischen Egoisten darzustellen.

Zur neuen Lesart nach der originalen Partitur gesellt sich folgerichtig die Realisierung durch das Orchestra La Scintilla unter der Leitung von Giovanni Antonini. Das Ensemble, dem neben Mitgliedern der Philharmonia Zürich inzwischen auch etliche andere Musiker aus der Alte-Musik-Szene angehören, rückt Bellinis Oper mehr in das klangliche Umfeld des frühen 19. Jahrhunderts und verabschiedet sich von einer stilwidrigen Aufführungstradition, die sich am Verismo Puccinis orientierte.

Bei der Premiere klappt nicht alles perfekt, die Streicher verschmelzen nicht optimal mit den Holzbläsern, das Blech klingt manchmal etwas unkontrolliert. Aber die – teilweise durch die ungünstigen Platzverhältnisse im Orchestergraben bedingte – klangliche Zurückhaltung ermöglicht es den Protagonisten, stellenweise ganz leise zu singen und dennoch gehört zu werden. Wenn Norma in der Schlussszene die Schuldige nennt und ihr «Son io» raunt, läuft es einem kalt über den Rücken.