Pascal Steiner, Tages-Anzeiger (12.10.2015)
Cecilia Bartoli sang im Opernhaus in Zürich die Norma – als dunkel bebendes Gefühlskraftwerk.
Sie macht ihn fertig, diesen Fremdgeher! Sie flucht, flirtet, fleht, betet und bettelt. Der Liebesverräter versucht noch, einen versöhnlichen Dreiklang hinzustammeln, da schleudert sie ihm endgültig die Blitze ihre Zorns mit messerscharfen Tonsalven entgegen: «Zittere um dich selbst, Verräter. Zittre um deine Kinder!» Da stockt einem der Atem. Da gefriert das Blut in den Adern. Denn diese Diva duldet keinen Widerspruch. Die Flammenkraft ihrer Wut ist echt. Was Cecilia Bartoli singt, das meint sie auch, in dieser Norma von Vincenzo Bellini, dem Liebesdrama schlechthin.
Dieses lässt drei Menschen alle Form und Fassung verlieren – unter der Oberfläche einer alten Geschichte: Die Priesterin Norma begehrt in verbotener Liebe den verfeindeten Pollione. Dieser begehrt in verbotener Liebe Normas junge Freundin Adalgisa. Jene weiss aber nicht, dass er mit Norma Familie und Kinder hat. Es kommt, wie es kommen muss: Untreuer Mann, treue Nebenbuhlerin und ein Kind im Babystrampler bilden eine Gefühlshölle, die Norma fast zur Kindsmörderin macht – bis sie sich selbst opfert.
Bartolis Norma stirbt aber nicht nur an der Liebe. Sie stirbt an einer Krankheit, die den Namen «Liebe» trägt, aber genauso gut «Verderben» oder «Verhängnis» heissen könnte. Mit dunkel bebender Stimme stösst die Mezzosopranistin dem Pollione das Wort «Verräter» entgegen – als das Geständnis einer wahnsinnigen, jedes Mass sprengenden Leidenschaft. Als litte ihre Norma unter dem Fieberfrost eines tödlichen Virus namens Eros, der nicht nur die Seele, sondern den Körper krümmt, bricht, quält, die Herrschaft über Gefühl und Verstand zerstört. Sie liebt ihn. Sie hasst ihn. Und Cecilia Bartoli ist eine Sängerin, die beides gleichzeitig verkörpern kann.
Die Bartoli ist einfach zu stark
Damit zieht sie alle in ihren Bann, auch den sonst so aufmerksamen Coro della Radiotelevisione Svizzera Italiana, der nach dem Traum der Casta-Diva-Arie fast seinen Einsatz verpasst. Aber das macht nichts. Weil es hier um die Ergriffenheit geht. Weil hier die Musik unter Vollstrom steht und die Läufe und Koloraturen gelingen, als würden die Stimmbänder durchdrehen. Und der Verstand gleich mit. Und weil Cecilia Bartoli diese Norma nicht als hysterische Explosion darstellt. Sondern als tragische Implosion. Greifbar und unbegreifbar durchpulst von der heissen Temperatur der Gefühle. Alles andere ist Nebensache.
Etwa Adalgisa, der Liebhaberin ihres Liebhabers, mit der Mexikanerin Rebeca Olvera steht Bartoli da quasi ihre eigene Vergangenheit gegenüber: junge, weiche Stimme, runder Ton, geschmeidige Kantilenen. Und doch nicht ganz. Denn obwohl die Klänge sitzen, fehlt etwas. Wie soll eine zur Gestalt werden, der mimisch nur die Varianten «verzweifelt» und «traurig» abverlangt werden? Rebeca Overa singt fantastisch, aber im Vergleich mit Cecilia Bartoli müsste sie doch noch das letzte Quäntchen Ausdruck aus sich herausholen. Aber vielleicht ist es wie mit dem Slogan aus der Fisherman’s-Werbung: «Sind sie zu stark, bist Du zu schwach.» Olvera ist nicht schwach – ganz und gar nicht, aber die Bartoli ist einfach zu stark. Auch gegenüber ihrem Liebhaber Pollione. Wunderbar intensiv und klangschön interpretiert John Osborn die Partie mit seinem leichten, lyrischen Tenor. Doch auch seine subtile Intonation verblasst gegenüber dem Gefühlskraftwerk der tragischen Heldin.
Es werde ein neuer Bellini werden, den sie mit dem Barockensemble La Scintilla unter Leitung von Giovanni Antonini auf der Grundlage einer neu erarbeiteten Partitur präsentiert, hatte Cecilia Bartoli für diese Gastspiel-Premiere verlauten lassen (an den Salzburger Pfingstfestspielen 2013 war diese Inszenierung das erste Mal zu sehen). Tatsächlich erklingt das Orchester in den direkteren Farben der historischen Instrumente und dem fein aufgerauten, im aufsässigen «Guerra»-Chor sogar rabiaten Gesamtklang um zahlreiche Nuancen bereichert. Hart, schmissig und in hohen Tempi wechseln das Zürcher Ensemble binnen Sekunden zu sanftesten Tönen, tänzelt, schwingt, strafft und schwebt und befreit so die Partitur von der zäh-klebrigen Patina der Betroffenheitsromantik früherer Aufnahmen – auch wenn die Koordination zwischen den einzelnen Instrumentengruppen nicht immer in letzter Perfektion gelingt.
Leichen im Schülerzimmer
Und die Inszenierung? Dass Moshe Leiser und Patrice Caurier die Geschichte ins Frankreich der Résistance-Zeit verlegen und aus der gallischen Druiden-Priesterin Norma eine Lehrerin gemacht haben, richtet keinen Schaden an. Im Gegenteil. Es gelingt ihnen mit sparsamen Mitteln eine klar nachvollziehbare Personenzeichnung. Da reicht ein einfaches Bett, um das plumpe Gebagger des Pollione zu entlarven. Und die zu Beginn aufgebahrten Leichen im Schülerzimmer zeigen klar die Drastik des kriegerischen Umfelds. Im Stil eines filmischen Realismus entwickelt so die Handlung Konsequenz und eine packende Glaubwürdigkeit.
Was vor allem an der unglaublichen Cecila Bartoli liegt. Am Ende bittet sie ihren Vater um Vergebung, fleht ihn an, nach ihrer Hinrichtung für ihre Kinder zu sorgen und diese nicht zu verstossen. Wie sie dabei einen einzelnen Ton in Schönheit aufblühen lässt, um ihn sofort wieder ins Peinvolle hinabzuziehen, ist schlicht herzergreifend. Es ist, als blicke man in diesem einzelnen Ton auf ein ganzes Leben.