Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (03.11.2015)
Premiere von Giacomo Puccinis «La Bohème» am Opernhaus Zürich
Bei der Neuproduktion von Puccinis «La Bohème» versetzt Ole Anders Tandberg das Geschehen in eine phantastische Welt zwischen Realität und Traum. Einen glänzenden Einstand gibt die Sängerin der Mimì.
Es gibt Opern, die den Ehrgeiz der Regisseure in besonderer Weise beflügeln. Bei Wagners «Meistersingern» oder Mozarts «Zauberflöte» will nahezu jeder von ihnen eine neue Deutung vorlegen. Bei anderen Opern wiederum ist die Macht der Aufführungstradition so stark, dass die Regisseure es kaum wagen, von ihr abzuweichen. In die zweite Kategorie gehört Giacomo Puccinis «La Bohème»: Seit ihrer Uraufführung 1896 will das Publikum im ersten Bild eine schäbige kleine Mansarde sehen, wo der Schriftsteller Rodolfo zähneklappernd sein Dasein fristet; und im zweiten Bild erwartet es unausweichlich das Lokalkolorit des Quartier Latin in Paris.
Bühne auf der Bühne
Der norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg hat es gewagt, bei der Neuproduktion von «La Bohème» am Opernhaus Zürich eine neue Lesart des Stücks zu zeigen. Tandberg siedelt das Geschehen in einer phantastischen Welt zwischen Realität und Traum an. Dabei gelingt ihm nicht alles mit derselben Schlüssigkeit. Anstelle von Rodolfos Mansarde zeigt der Bühnenbildner Erlend Birkeland im ersten Akt einen grossen, etwas in die Jahre gekommenen Saal in hellem Holz (angeblich irgendwo in Norwegen). Er dient als Proberaum für ein Theaterstück, das auf der im Hintergrund zu sehenden Theaterbühne aufgeführt werden soll. Rodolfo ist der Autor des Stücks, sein Freund Marcello der Bühnenmaler. Diese Idee des Stücks im Stück bleibt indes rätselhaft und erklärt wenig. Schlüssig zeigt das Regieteam jedoch, dass von der Hintergrund-Bühne eine Magie der Träume ausgeht. Von dorther kommt die Blumenstickerin Mimì zu Rodolfo. Nachdem sich die beiden auf der Stelle verliebt haben, fliehen sie miteinander auf diese Hinterbühne, die nun einen tief verschneiten (norwegischen?) Wald der allerkitschigsten Sorte darstellt.
Ein Riesenklamauk ereignet sich im zweiten Akt: Chor, Zusatzchor und Kinderchor der Oper Zürich stellen Bohémiens dar, von der Kostümbildnerin Maria Geber üppig ausstaffiert als Kopien realer Personen, die den Pariser Bohème-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert geprägt haben, unter ihnen Henri Murger, der Dichter der Opernvorlage selbst, aber auch Grössen wie Edith Piaf und Karl Lagerfeld. Feuchtfröhlich feiern die Freunde mit Mimì den Heiligen Abend. Vollends turbulent wird das Geschehen, als Musetta, Marcellos ehemalige Geliebte, mit ihrem reichen Verehrer Alcindoro auftaucht, den sie aber schon wieder loswerden möchte. Im Hintergrund erinnert der Père Noël an den Heiligen Abend, eine quicklebendige Statue von Rodins «Penseur» markiert den Mythos Paris, und eine Napoleon-Figur befehligt die patriotische Musik der auf die Theaterbühne marschierenden Militärkapelle.
Kitsch und Klamauk – dies sind durchaus auch einige der Ingredienzien von Puccinis Partitur. Und die fast schon filmschnittartig dichten Stimmungswechsel dürften zur Beliebtheit dieser Oper beitragen. Der Regisseur greift folglich das, was in der Musik angelegt ist, auf und verstärkt es. Kitschig, in einer durchaus raffinierten Weise, sind insbesondere die Liebesszenen im ersten und im vierten Akt. Für den Klamauk sind neben dem Quartier-Latin-Akt auch weitere Szenen der vier Künstlerfreunde Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline verantwortlich. Der Dirigent Giampaolo Bisanti, der anstelle des von einem Rückenleiden geplagten Mikko Franck die musikalische Leitung der Produktion übernommen hat, zeigt sich an der Premiere als ein erfahrener Puccini-Dirigent – er dirigiert das Werk sogar auswendig. Sowohl die sentimentalen als auch die buffonesken Elemente sind bei ihm bestens aufgehoben. Und hervorragend klappt die Koordination zwischen dem Orchester der Philharmonia Zürich und den Solisten, die Bisanti stets mit Hand und Herz führt.
Ungekünstelte Natürlichkeit
Eine sängerische Entdeckung ist die Mimì der chinesischen Sopranistin Guanqun Yu, die damit ihr Debüt in Zürich gibt. Stimmlich kann sie, wenn es sein muss, wie etwa im dritten Bild, mächtig aufdrehen, aber in der Sterbeszene des vierten Akts beweist sie, dass sie auch eine Meisterin der Klangreduktion ist. Darüber hinaus besitzt sie eine unwiderstehliche Ausstrahlung, die auf ungekünstelter Natürlichkeit beruht. Und so stirbt auch ihre Figur nicht eigentlich an ihrer Tuberkulose, sondern weil Rodolfo sie nicht als reale Frau zur Kenntnis nimmt. Der Rodolfo von Michael Fabiano ist ein Phantast, ein (noch) erfolgloser junger Künstler, der sich seine Träume mithilfe einer Muse erfüllen will. Fabianos Tenor verfügt über beachtliche Möglichkeiten; sein schauspielerisches Talent ist dagegen ausbaubar.
Der Marcello des Baritons Andrei Bondarenko bildet in seiner unsteten Art einen guten Kontrast zu Rodolfo. Zusammen mit Adrian Timpau als Musiker Schaunard und Erik Anstine als Philosoph Colline bilden die beiden ein bühnenwirksames Künstlerquartett. Die Gegenfigur zu Mimì stellt die Musetta von Shelley Jackson dar. Stimmlich dürfte der Kontrast der jungen Sopranistin vom Internationalen Opernstudio zu Mimì noch deutlicher sein, aber als betörende Femme fatale, die den verlassenen Marcello im Handumdrehen wieder für sich einnimmt, punktet sie auf jeden Fall. Der Alcindoro von Valeriy Murga sieht da buchstäblich alt aus.