Norwegisches Wintermärchen mit traurigem Ende

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (03.11.2015)

La Bohème, 01.11.2015, Zürich

Am Opernhaus Zürich versetzt die Regie Puccinis beliebte Oper «La Bohème» nicht ungeschickt nach Norwegen. Doch leider protzten der Dirigent und der grössere Teil der Sänger bei der Premiere am Sonntag mit eindimensionaler Lautstärke.
von Reinmar Wagner

Es schneit mal wieder in Puccinis «Bohème», aber diesmal ist das legitim, weil der norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg diese Szenen nicht nur nach Norwegen verlegt, sondern vor allem als Theater auf dem Theater zeigt. Ein pauvres Theater im verfallenen Kirchgemeindehaus, mit dem sich die vier wenig talentierten Bohemiens – der Dichter Rodolfo, der Maler Marcello, der Musiker Schaunard und der Philosoph Colline – ihren Traum vom Künstlerdasein in Glanz und Gloria ­erkämpfen möchten. In Paris sind sie noch lange nicht angekommen, die ­Kulissen und Kostüme sind aus Papier, und der Schlussapplaus nach der spärlich besuchten Premiere entsprechend dünn. Gleichwohl verzichtet Tandberg nicht auf Paris: Er erzählt die Szenen im «Café Momus» einfach als farbigen Künstlertraum, der hier auch von den sehr aufwendigen Kostümen lebt: Maria Geber hat für jedes Chormitglied Kleid und Attitüde bekannter Pariser Künstlerfiguren von Proust und Edith Piaf über Picasso und Lagerfeld bis Brigitte Bardot virtuos nachgestellt.

Oft überraschend und witzig

Leider sieht man viele von ihnen so richtig erst beim Defilee beim Schlussapplaus. Das hat der Regisseur ein ­wenig verschlafen, wohl aus Angst, die sich anbahnenden Konflikte der beiden Paare zu sehr zu stören. Ansonsten spielt er virtuos mit seiner szenischen Anlage, bleibt oft überraschend, witzig und legt Wert auf Details. Er zeigt die vier jungen Männer mit viel Lust am Herumblödeln als verspielte Kinds­köpfe, die ständig nur Unfug im Kopf haben und auch deshalb erstens mit ihrer Kunst nicht reüssieren und zweitens vom Einbruch des realen Lebens und Sterbens völlig überfordert sind. Diese dramatischeren Szenen inszeniert Tandberg zwar eher statisch und recht konventionell. Aber weil Puccinis Musik in diesen Momenten mächtige Emotionen aufrauschen lässt, braucht man ausser dem rieselnden Schnee eigentlich nichts weiter zu zeigen.

Sportwagen-Dirigieren

Der italienische Dirigent Giampaolo Bisanti freilich – im Saisonprogramm war noch Mikko Frank angekündigt gewesen – hatte ein dezidiert eindimensionales Klangbild für Puccinis süffige Melodien bereit: Ganz schnell ganz laut werden und in diesem Klangrausch möglichst lange verharren. Das ist Sportwagen-Dirigieren: Von 0 auf 100 in fünf Sekunden und dann das ­Pedal durchdrücken, ohne Rücksicht auf Strassenverhältnisse und Gegenverkehr. Im Tenor Michael Fabiano fand er einen Gesinnungsgenossen, ja fast schien dieser Rodolfo das Orchester im PS-Protzen noch übertreffen zu wollen. Sogar wenn ihm Bisanti für einmal samtene Streicherteppiche vorlegte, zog der Amerikaner die Dynamik sofort an und sang seine gesamte ­Partie in einem wenig differenzierten Fortissimo, was seine Stimme zwar aushielt, was aber zunehmend langweilte.

Die Frauen zeigen Verstand

Solche Vorbilder stecken an: Die restlichen drei Männer in diesem fidelen Bohemien-Quartett versuchten gar nicht erst, Zwischentöne zu finden, bloss lag den einen dieses stimmliche Forcieren besser – vor allem Andrei Bondarenko als Marcello, anderen weniger wie Erik Anstine als Colline. Nur die beiden Frauen trauten sich zum Glück – im kleinen Zürcher Opernhaus, welches minimste stimmliche Nuancen bis in die höchsten Ränge transportiert, beim Forcieren aber ganz schnell nur noch schrillt –, auf vielschichtigere Farben und eine wache dynamische Linienzeichnung zu setzen. Beide, Shelley Jackson als ­Musetta und vor allem die Chinesin Guanqun Yu als Mimì, haben keine kleinen Stimmen und das bewiesen sie durchaus wiederholt, aber mit Sinn, Geschmack und Verstand. Diese Mimì liess tatsächlich die Sonne scheinen, schon im ersten Akt schwang sie sich auf zu betörendem Puccini-Gesang ohne Makel, mit vielfältigen stimmlichen und klangfarblichen Möglichkeiten. Man hätte dem Dirigenten wirklich ein offeneres Ohr für die Fähigkeiten seiner Primadonna gewünscht.