Sigfried Schibli, Basler Zeitung (03.11.2015)
Puccinis «Bohème» am Opernhaus Zürich – ein Kostümfest mit tragischem Kern
Von viel gespielten und allseits beliebten Opern wie «La Bohème» von Giacomo Puccini sagt man gern, sie seien unverwüstlich. Das mag für die Musik noch halbwegs zutreffen, aber wer im Lauf der Jahre viele Inszenierungen dieses Rührstücks um die lungenkranke MimÌ und ihren mittellosen Dichterfreund Rodolfo gesehen hat, weiss sehr wohl um das Verfallsdatum dieses Werks.
Die Pariser Dachstube der vier Bohèmiens mitsamt Ofen und Bett, das Café Momo im zweiten Akt mit dem Spielzeugverkäufer Parpignol und den bunt durcheinanderwirbelnden Kindern – allzu oft hat man diese Bilder schon auf die Opernbühne gezaubert, bis vom früheren Zauber nur noch der Aspekt des Gemachten übrig war.
Nun hat der norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg am Zürcher Opernhaus eine Version auf die Bühne gebracht, die in vielem originell und neuartig ist und – solche Theaterwunder gibt es selten – den tragischen Kern der Geschichte gleichwohl bewahrt. Rodolfo, Marcello, Colline und Schaunard sind vier junge Männer im Outlook von Studenten der Hippie-Generation, die sich als Kulturschaffende über Wasser halten wollen. Sie haben ein etwas verlottertes altes Theaterchen gemietet, in dem sie auch wohnen, wenn gerade keine Aufführung ist. Also fast immer.
Das Naturereignis Mimì
Als Heizofen dient eine Blechkiste, in welcher der Dichter Rodolfo seine Manuskripte verbrennt. Ihre künstlerische Spezialität sind Aufführungen, wie man sie in der Zürcher Dada-Bewegung vor hundert Jahren erlebt hat; ihr wichtigstes Material ist weisses Papier. Aus Papier formen sie Hüte, Röcke, Hosen und Hemden der Akteure (Kostüme: Maria Geber).
Durchschlagenden Erfolg scheinen sie mit ihrer Bühne, die Erlend Birkeland ins Opernhaus gebaut hat, allerdings nicht zu haben: Zu Beginn des vierten Akts hört man spärlichen Applaus und sieht auf der Bühne einige Theaterbesucher, die den Spielort mit wenig Begeisterung über die Revue aus der Feder des Dichters Rodolfo verlassen. Die Inszenierung zeigt uns eine Welt, wie sie für die heutige Bohème typisch ist, in welcher viele sich zu Künstlern berufen fühlen und einfach etwas machen, was es noch nicht gibt – Innovation um der Innovation willen.
MimÌ bricht mit ihrer menschlichen Bedürftigkeit wie ein Naturereignis in diese Kunstwelt ein. Zur Händchen-Arie («Che gelida manina») im ersten Akt legt MimÌ wirklich ihre Hand in die des Rodolfo. Das ist anrührend. Wenn MimÌ im dritten Akt einsam und perspektivlos im Bühnenhintergrund an der Zollschranke steht und ans Sterben denkt, während ihre Freunde Rodolfo und Marcello über sie verhandeln, kommt im Opernhaus eine emotional dichte Atmosphäre auf, wie sie im modernen regiedominierten Musiktheater selten geworden ist. Und als MimÌ am Ende ihr junges Leben aushaucht, scheinen sogar die mit viel Kunstschnee behangenen Nadelbäume auf der Bühne zu trauern.
In extremem Kontrast zur tragischen Tendenz des Stücks hat Regisseur Tandberg Szenen von surrealer Komik geschaffen. Auf der Bühne steht eine einsame Tür, durch die man hindurchgehen, an der man aber auch vorbeigehen kann. Dort auf der Bühne fängt es auch mal unmotiviert zu schneien an, und die Tageszeiten gehorchen keinem logischen Ablauf – mal ist es dunkel, dann gleich wieder hell. Der Philosoph Colline verabschiedet sich mit pathetischer Anteilnahme von seinem Mantel, um ihn ins Pfandhaus zu tragen. Das sind komische surreale Inseln inmitten einer larmoyanten Handlung.
Im zweiten Akt wird die Inszenierung zum frivolen Kostümfest, denn die Bühnenfiguren sind Kopien von Personen, die alle etwas mit Paris zu tun hatten oder haben – von Brigitte Bardot und Karl Lagerfeld bis zu Edith Piaf, Jean-Paul Sartre und Salvador Dalí, dem der Chor der früh vergreisten Kinder nachgebildet ist. Das ist köstlich, und wenn es auch keinen tieferen Sinn hat, so bereitet es doch Vergnügen.
Sentiment darf sein
Im Orchestergraben steht ein anderer Regisseur, ein Inszenator des Klangs: der Dirigent Giampaolo Bisanti, der mit dem Philharmonia-Orchester aus Puccinis opulenter Fin-de-Siècle-Partitur – nie zuvor wurde mir der Anteil der Harfe so bewusst wie hier! – eine Fülle von Klangfarben und Gefühlslagen herauskitzelt. Puccini darf hier auch mal ganz ohne Versachlichung sentimental klingen, nur brutal tönt das nie. Die Philharmonia-Musiker folgen diesem Konzept bewunderswert.
Die vokale Besetzung kann absolut mithalten. Die chinesische Sopranistin Guanqun Yu singt mit festem, aber nie schrillem Sopran eine anrührende MimÌ. Am Ende weinte sie wirklich – aus Rührung über den Erfolg, den sie beim Publikum hatte. An ihrer Seite steht mit Michael Fabiano der heldentenoral starke, intonatorisch sehr genaue Rodolfo. Unter den ausnahmslos guten weiteren Solisten ragen der markige Marcello des Baritons Andrei Bondarenko und die auch glänzend spielende Musetta von Shelley Jackson hervor.
Das Zürcher Premierenpublikum liess sich durch die ungewohnte Sichtweise nicht abschrecken und spendete am Sonntag begeisterten Applaus. Nehmen wir einmal an, dass das nicht nur an den vorweihnachtlichen Kunstschneeflocken lag.