«La Bohème» in der Verbannung – eine nordische Fantasie

Herbert Büttiker, Der Landbote (03.11.2015)

La Bohème, 01.11.2015, Zürich

Für Mimìs Lieben und Sterben hat das Opernhaus eine aufgedonnerte Bühne, aber eine Sängerin von grossem intimem Format. Bei allem fast monströsen Aufwand für Puccinis «La Bohème»: Es ist der Abend von Guanqun Yu.

«Ich kenne keinen, der das Paris jener Zeit so gut beschrieben hätte wie Puccini in der ‹Bohème›», meinte einst kein Geringerer als Claude Debussy. Dem «Pariser Bohème-Mythos» huldigt auch die neue Zürcher Inszenierung – auf eigenartige Weise allerdings. Die Kostümbildnerin Maria Geber hat eine Liste der Pariser ­Szene-Menschen von Guillaume Apollinaire, Brigitte Bardot und Pablo Picasso bis Yves Saint Laurent und Emile Zola erstellt und jedes Chormitglied entsprechend kostümiert und maskiert. Im Gewühl der im Übrigen ja auch recht kurzen Strassenszene kommt ihre aufwendige Arbeit weniger zur Geltung als post festum beim Defilee zum überraschender­weise, das sei vorweggenommen, ganz einvernehmlichen Schlussapplaus für alle Beteiligten.

Überhaupt haben die Werkstätten gerackert, um nicht nur die Bühne, sondern auch die Bühne auf der Bühne zu bebildern: Mit Adventskalendertannen im Schneetreiben, mit Monumenten in Lebensgrösse nach Jacques-Louis Davids Napoleon-Reiterbild und Auguste Rodins «Denker», und auch ein ausladend rot berockter Sankt Nikolaus fehlt in der Strassenszene nicht, die am Heiligabend spielt und eigent- lich das berühmte Café Momus, Treffpunkt der Pariser Bohème im 19. Jahrhundert, zum Mittelpunkt hat.

Zwischen Luftschlössern

Der Regisseur Ole Anders Tandberg und der Bühnenbildner Erlend Birkeland haben «La Bohème» aber nicht in Paris, sondern in ihrem Heimatland Norwegen angesiedelt. Im Bühnensaal eines Volkshauses werkeln Rodolfo und seine Künstlerkollegen an ihren brotlosen Projekten, und das heisst vor allem, Papiermassen türmen sich zu Luftschlössern und wirbeln chaotisch über die Bühne: Auch leichte Materie wächst in dieser Inszenierung symbolschwanger ins Bombastische.

Der Tiefpunkt des Regiekonzepts, das die nordischen Bohémiens von Paris nur träumen lässt, ist im dritten Bild mit ­Puccinis Wintermorgen-Magie erreicht. Sie ist zur läppischen Szenenprobe von Rodolfos «papierenen» dramatischen Versuchen umfunktioniert, und viele im Publikum haben das lustig gefunden. Dabei zeigt sich da nur besonders krass, was für den Abend überhaupt gilt: Dass diese Inszenierung zu viel einfachen, präzisen und aussagekräftigen Puccini verschenkt für einen «persönlichen» Zugang – «Ich habe verzweifelt davon geträumt, nach Paris zu gehen und ein berühmter Künstler zu werden», begründet Tandberg seine Fantasiebilder, die er dem Stück überstülpt.

Traum und Wirklichkeit

In einem Punkt zum Glück nicht konsequent: Mimì tritt zwar wie eine Traumfigur durch eine frei stehende Theatertüre in Rodolfos Welt, aber dann ist sie reale Person, und ihre Geschichte, vom Anfang mit dem «kalten Händchen» bis zum Ende mit der Erfüllung des Wunsches nach einem wärmenden Muff, den ihr Musette erfüllt, erzählt Tandberg ­genau nach den Vorgaben des ­Librettos.

Und da ist dann vor allem die Überzeugungskraft der Darsteller gefordert. Das Opernhaus setzt auf junge Kräfte, die grossenteils erstmals in Zürich auftreten und in ihren Rollen noch wachsen ­können. Unter den vier Bohème-Freunden fällt der Musiker Schaunard durch das satte Baritontimbre von Adrian Timpau auf, Erik Anstine bringt für den Philosophen Colline einen eher zu nervösen Bass ins Spiel. Markant setzt sich Andrei Bondarenko mit profiliertem, nicht immer ganz tongenauem Bariton als Marcello in Szene, der Kumpel im Quartett und der cholerische Partner von Shelley Jacksons aufreizend gesungener und gespielter Musette, wobei von französischem Charme in diesem Dekor ohnehin kaum die Rede sein kann.

Überragende Sopranistin

Den Abend entscheiden aber ohnehin nicht das Streit-, sondern das Liebespaar mit der Magie des Augenblicks zu Beginn und der gesteigerten Emotionalität vor allem im dritten Bild. Dem Amerikaner Michael Fabiano gelingt es dabei weniger, über die erste Arie mit der Verve eines höhensicheren und etwas vordergründigen Tons hinaus dem Poeten Rodolfo neue Facetten abzugewinnen. So rückt er zunehmend in den Schatten der von der chinesischen Sopranistin Guanqun Yu überragend verkörperten Mimì. Das wird über die vier Akte immer deutlicher, die Stimme wächst und gewinnt an intimer Ausdruckskraft und Freiheit für die grossen lyrischen Bögen. Forte ist bei ihr nicht laut, das Piano nicht kraftlos, die Sterbeszene berührend schlicht empfunden.

Nordische Schwere

Ihrem Verlöschen auf dem Bett, das die Musik unerbittlich regis­triert, folgt kein Abgang durch die offene Theatertür im Hin­tergrund, wie die Inszenierung erwarten lässt. Die Türe öffnet und schliesst sich von Geisterhand – ein kleiner Wink und einer der raren Momente feiner Bühnenkunst. Ihnen wie auch den lauten Effekten scheint auch die musikalische Aufführung rückhaltlos zu dienen. Das Orchester spielt gleichsam auf Augenhöhe der überladenen Inszenierung und kostet üppig aus, was die Partitur an Finessen und Theatercoups zu bieten hat. Der Dirigent Giampaolo Bisanti geht dafür auch mit einem «poco rallentando» gern ins «molto» und malt die lyrischen Episoden gern in breiten Tempi. Auch kann eine komische Szene wie diejenige des Hausmeisters Benoît (Pavel Daniluk) recht ausgewalzt daherkommen, musikalisch wie szenisch. So waltete alles in allem unter beiden Aspekten mehr nordische Schwere als Italianità und romanisches Flair.