Dort, wo die Wände Ohren haben, lässt sich nicht ruhig leben

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (12.12.2005)

Peter Grimes, 11.12.2005, Zürich

Die gestrige Premiere von Benjamin Brittens „Peter Grimes“ war ein voller Erfolg und wurde zu Recht heftig bejubelt, obwohl es ein an sich sperriges Werk ist.

Massgeblichen Anteil an diesem Erfolg hatte wieder einmal Franz Welser-Möst, der die Partitur bis ins kleinste Detail auslotete, sich nicht scheute, bisweilen an die Verträglichkeitsgrenzen der Lautstärke zu gehen, nur um die Dynamik besser ersichtlich zu machen. Die Unterschiede zwischen kaum noch hörbaren Piani und Fortissimo-Stellen waren fast körperlich zu spüren und erhöhten z.B. das Empfinden nackten Entsetzens bei den Schreien des Chors nach Peter Grimes im letzten Akt, wo das brachiale Verlangen nach Lynchjustiz offenbar wurde. Dem Orchester gelang es meisterhaft, sowohl die impressionistischen Zwischenspiele zu interpretieren wie auch die Sänger im eher veristischen Stil zu begleiten und die Situationen plastisch herauszuarbeiten.

Peter Grimes kann sich in der kleinen Dorfgemeinschaft eines englischen Küstenortes nicht eingliedern. Er ist ein Aussenseiter, der sich nicht anpassen will, obwohl sein ganzes Bestreben ist, mit einem grossen Fischfang endlich soviel Geld zu verdienen, dass er die Achtung des Dorfes erlangt und gleichzeitig auch Ellen Orford heiraten kann. Sein Lehrjunge ist durch einen Unglücksfall ums Leben gekommen; der Dorfklatsch verurteilt ihn aber als Mörder. Die Geschichte handelt von seiner permanenten Auflehnung. Sein Stolz hindert ihn, den positiven Empfindungen, die einige wenige Personen ihm entgegenbringen, zu trauen. Er will kein Mitleid und zeigt sich auch rau und mitleidlos seinen Lehrburschen gegenüber. Das Dorf verstösst ihn immer mehr, immer drastischer – die Spirale dreht sich bis zum tödlichen Ende…

Die Musik Brittens ist packend, spannend, modern (aber nie atonal) und hat zwischendurch folkloristische Anklänge, die mich stark an amerikanische Weisen, bisweilen gar an Musicals erinnerten.

Einen phänomenalen Einstand in Zürich gab Christopher Ventris in der Titelrolle. Er verfügt sowohl über die Ausstrahlung wie auch über eine Stimme, die jegliche Gefühlsschattierung auszudrücken vermag. Er nennt eine makellose Höhe wie auch eine profunde Mittellage sein eigen und gestaltete die Partie leidenschaftlich, emotional, berührend und bedrückend. Ich war hin- und hergerissen zwischen aufrichtiger Teilnahme und Mitleid ihm gegenüber und Wut und Abscheu über sein Verhalten.

Emily Magees Leistung gehört ebenfalls zu den Highlights des gestrigen Abends. Sie verkörperte die Witwe und Lehrerin Ellen Orford mit Natürlichkeit, Liebreiz, Zärtlichkeit und Aufopferung. Stimmlich hatte sie keinerlei Schwierigkeiten, die anspruchsvolle Partie glänzend zu bewältigen.

Alfred Muffs Captain Balstrode war schon etwas gewöhnungsbedürftiger, vor allem, was die Aussprache betraf. Seine etwas brüchige, eindimensionale Stimme passte jedoch zum pensionierten Seebären, auch wenn ich mir bisweilen etwas mehr Gesang und weniger Sprechgesang gewünscht hätte.

Von all den vielen vorzüglichen Nebenrollen sei vor allem Cornelia Kallisch als schrullige, bösartige Mrs Sedley erwähnt, die ihr komödiantisches Talent voll ausleben durfte. Und als weiterer Glanzpunkt erfreute der Chor des Opernhauses die Premierenbesucher mit einer untadeligen gesanglichen Leistung und – wie immer in David Pountneys Produktionen – einer sehr engagierten und spielfreudigen Darstellung der Dorfbewohner.

Die Inszenierung findet in einem Einheitsbühnenbild von Robert Israel statt. Ein Hafenpier wird gezeigt mit Stämmen, auf denen die ganze Zeit Dorfbewohner auf Stühlen sitzen und ihren Tagesaufgaben nachgehen. „Wo die Wände selber mich belauern“ singt Peter Grimes bereits im Prolog. Diese Bedrohung, diese Beklemmung, die das Leben Grimes’ so sehr erschweren, werden schon alleine durch dieses kompakte Bühnenbild deutlich gemacht. Die exzellente Personenführung Pountneys erhöht dies noch. Die Inszenierung lebt vor allem von dieser Personenführung. Kein Darsteller auf der Bühne ist Staffage, jeder hat seine Rolle. Die Inszenierung ist „werkgetreu“, auch wenn das Bühnenbild verlangt, dass man abstrahieren kann. Sie ist stilisiert und besticht durch ihre Kargheit. Auch wenn ich nicht ganz alles entschlüsseln konnte (was bedeuten die roten Objekte?), hielt sie mich gefangen und atemlos. Hervorragend wurde die Bigotterie der Dorfbewohner herausgestrichen. Bedrückend ist der Schluss, den Benjamin Britten meines Erachtens grandios umgesetzt hat: Peter Grimes fährt auf Anraten Balstrodes aufs Meer hinaus und versenkt sich samt Schiff. Der Aussenseiter ist somit entfernt, das „normale“ Leben der Dorfgemeinschaft kann wieder aufgenommen werden, wie wenn nichts passiert wäre. Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor?

Einige lange Momente der Stille nach Ablöschen der Lichter zeugten davon, dass das Werk nicht nur mir mächtig unter die Haut ging. Dann setzte ein frenetischer Applaus ein!