Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (03.11.2015)
Puccinis «La Bohème» ist ein Hit. Die neue Produktion am Zürcher Opernhaus ist es nicht. Dennoch gab es nach der Premiere viel Applaus.
Picasso ist da mit seinem unverwüstlichen Streifenpulli, Charles Aznavour trägt wie so oft einen Lederblouson, Coco Chanels Jäckchen ist diesmal weiss mit schwarzen Bordüren, und auch die grosse Sarah Bernhardt hat den Weg ins Opernhaus gefunden. Alle sind sie da, der Kostümbildnerin Maria Geber sei Dank, und bevölkern den zweiten Akt von Puccinis Oper «La Bohème». Respektive jene Pariser Grossstadtszene, die Rodolfo hier für einmal nur träumt.
Denn eigentlich sitzt dieser Rodolfo in der neuen Zürcher Produktion weit weg von Paris in einem schäbigen, von Erlend Birkeland gebauten norwegischen Theater. Zusammen mit seinen Kumpanen träumt er vom Erfolg, von einer Heizung, von der Liebe. Und davon, sich echte Kostüme leisten zu können: Jene, die er auf seine Bühnen-Bühne bringt, sind zwar liebevoll gestaltet, aber nur aus Papier.
Sehr viele Einfälle
Er habe sich mit dieser Inszenierung an seine eigenen Anfänge erinnert, sagt der 56-jährige norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg in einem Interview im Programmheft. Tandberg selbst ist inzwischen weitergekommen als sein langmähniger Wolldeckenbesitzer Rodolfo; seit Jahren bespielt er im Schauspiel und in der Oper die grossen Bühnen Skandinaviens, nun hat er zum Sprung in Richtung Süden angesetzt. Mit Schostakowitschs «Lady Macbeth von Mzensk» hat er in Berlin gastiert, «La Bohème» ist sein Zürcher Debüt. Paris dagegen steht soweit bekannt noch nicht in seiner Agenda, und wer weiss – vielleicht ist der Traum seines Protagonisten auch ein bisschen sein eigener.
Es wäre ein skurriler Traum. Neben all den illustren (Wahl-)Parisern kommt Jacques-Louis Davids lebendig gewordenes Napoleon-Gemälde darin vor, dazu das Rotkäppchen und mehrere Wölfe. Im Theaterraum erscheinen und verschwinden Türen, und ob die verschneiten Tannen im Hintergrund nun Realität, Fantasie oder Bühnenbild sind, lässt sich kaum ausmachen. Es ist auch nicht wichtig. Das Entscheidende und ein wenig Wohlfeile ist: Tandberg zeigt eine Bohème, wie man sich diese Bohème halt vorstellt. Und muss sich doch nicht vorwerfen lassen, er habe keine Ideen gehabt.
Allerdings beschränken sich seine Einfälle oft auf die Kostüme, allzu selten berühren sie die Figuren darin. Dass Mimì ihre Kerze selbst auslöscht und sich damit den Rodolfo zielstrebiger als üblich angelt, macht sie noch nicht zu einer eigenständigen Persönlichkeit. Umso weniger, als sich die Sängerinnen und Sänger insgesamt exakt so benehmen, wie es sich gehört in einer «Bohème»: Sie streichen sich die strähnigen Haare aus dem Gesicht, schreiben auf einer klapprigen Schreibmaschine und hüpfen durch den Raum, wenn einer eine Flasche Wein ergattert hat.
Sehr viele Debüts
Es ist eine bunte Truppe, die sich hier zusammengefunden hat: Rodolfo alias Michael Fabiano ist ein aufstrebender amerikanischer Tenor mit attraktivem Timbre und einer verhängnisvollen Tendenz zum monotonen Forcieren; wenn im letzten Akt seine Stimme bricht, hat es weniger mit der Verzweiflung über Mimìs tödliche Krankheit zu tun als mit der Überforderung seiner Stimmbänder.
Mimì wiederum kommt aus China, lebt in Bologna, heisst Guanqun Yu und verfügt über mehr vokale Facetten als ihr Geliebter. Zwar neigt ihr Sopran zum Metallischen, aber sie versteht ihn zurückzunehmen in ein tatsächlich anrührendes Piano. So verstünde sie sich eigentlich bestens mit Rodolfos Kumpel Marcello, der vom Ukrainer Andrei Bondarenko mit grummeligem Charakter und warmem, nuanciertem Bariton ausgestattet wird.
Wie Fabiano und Yu tritt auch Bondarenko zum ersten Mal am Zürcher Opernhaus auf: So ist das nun mal seit der Schrumpfung des Ensembles (das mit Pavel Daniluk oder Valeriy Murga immerhin noch in den kleineren Rollen vertreten ist). Man fängt bei der Sängerbesetzung der Stücke jedes Mal wieder bei null an – und bei den italienischen Stücken bemerkenswert selten in Italien. Auch der verstärkte Einsatz von günstigen Mitgliedern des Internationalen Opernstudios ist mittlerweile zur Tradition geworden, wobei die junge Amerikanerin Shelley Jackson als lebenslustige und in der Show wie im Gebet gleichermassen glaubwürdige Musetta einen starken Auftritt hat.
Eine Träne – oder auch zwei
Noch ein letztes Debüt bietet dieser Abend: jenes des Dirigenten Giampaolo Bisanti, den man nun doch aus dem Süden geholt hat und der die Partitur seines Landsmanns Puccini überaus forsch angeht. Rasante Tempi, aufgeputschte Blechbläser: Hier wird unter Hochdruck gefroren und geliebt. Immerhin, fürs Zweifeln und Sterben nach der Pause findet Bisanti mit der Philharmonia gelassenere, stillere Töne. Während sich das Orchester zuvor als Sparringpartner der Sängerinnen und Sänger positioniert hatte, wird es nun zum mitfühlenden Begleiter. Und wenn Mimì den Muff für ihre «gelide manine» erhält, wenn sie in diesem norwegischen Theater in einem eilends aus den Kulissen herbeigeholten Bett stirbt, sobald sich ihr letzter Wunsch erfüllt hat, wischt man sich eine Träne weg – oder auch zwei.
Vielleicht ist das die Erkenntnis, die man aus einer engagierten, aber eben doch durchzogenen Aufführung ziehen kann: wie grossartig Puccinis berühmteste Oper geschrieben ist. Wie sehr sie einen packt und berührt, auch wenn einen die Schwindsucht nicht als drängendstes Problem beschäftigt. Und wie rasch Einwände gegenüber Sängern oder Regieeinfällen sich erledigen: Kaum ist der Vorhang gefallen, sind Napoleon und Sarah Bernhardt und das Rotkäppchen vergessen, es bleibt das Bild eines schäbigen Theaters. Ein schönes Bild.