Aufbruchsstimmung

Michelle Ziegler, Neue Zürcher Zeitung (24.10.2015)

Chowanschtschina, 22.10.2015, Basel

Mit Modest Mussorgskys gewaltiger «Chowanschtschina» beginnen am Theater Basel die neue Saison und eine neue Intendanz



Das Theater Basel zeigt unter dem neuen Leitungsteam um Andreas Beck das brennend aktuelle Opernfragment von Mussorgsky – ein mutiger Start mit starker Wirkung.

Kompakte Rollkoffer, stabile Rucksäcke, mit Klebeband zusammengehaltene Plastictaschen, die zumindest einen Teil des Familienhaushalts fassen können: Die Menschen haben das Nötigste eingepackt. Sie sind bereit, das Land zu verlassen. Deshalb strömen sie zahlreich zum Bahnhof. Dieses Bild, das der junge russische Regisseur Vasily Barkhatov für Modest Mussorgskys Volksdrama «Chowanschtschina» erdacht hat, zeigt die Unsicherheit von Menschen, die zwischen den Kraftfeldern eines schwankenden Machtgefüges zerrieben werden. Durch die Flüchtlinge, die derzeit nach Europa strömen, erhält diese Deutung eine erschütternde Aktualität. Am Theater Basel bildet die gewaltige Produktion, für die das Haus alle Kräfte zu mobilisieren hatte, den Auftakt zur neuen Intendanz von Andreas Beck – ein mutiger Einstieg.

Strippenzieher und Demagogen

Mussorgskys Fragment gebliebene Oper – Orchestrierung und Finale fehlen – ist eine messerscharfe Zeit-Analyse: Weder der Zar noch die Kirche vermögen dem Volk eine sichere, geeinte Zukunft zu garantieren. In dieser Situation greifen zwei Fürsten und ein Geistlicher nach der Macht – und scheitern. Kein Wunder: In einem Moment, der Führungskraft verlangen würde, verlieren sie sich in egomanischen Selbstinszenierungen und Ränkespielen. Barkhatov lässt dieses menschliche Schlingern in Krisensituationen besonders im dichten zweiten Akt zur Geltung kommen. Er zeigt den Fürsten Golizyn als einen zwischen Machtgier und Reformwillen zerrissenen «Macher», blond, in Wollpullover und Fellstiefeln, umgeben von einer Schar von Untergebenen, die sich an Schiessständen ertüchtigen. Dmitry Golovnin lässt diesen Strippenzieher eindringlich zwischen Verstiegenheit und Verzagen schwanken. Dabei gerät er unweigerlich in Streitereien mit dem Haudegen Iwan Chowanski, dem Vladimir Matorin mit seinem urwüchsigen Bass markantes Profil verleiht, und mit Dossifej, dem Anführer der Altgläubigen, dessen verführerische Macht sich in Dmitry Ulyanovs voluminöser Stimme spiegelt. Als berechnend Handelnde präsentiert Barkhatov allein Dossifejs Parteigängerin Marfa (Jordanka Milkova): Sie lässt sich von der Rache an dem ihr untreu gewordenen Andrei Chowanski sogar dazu antreiben, ihre Rivalin Emma aus dem Weg zu räumen, und führt in ihrem Fatalismus schliesslich ein ganzes Volk in den kollektiven Freitod.

Mit den klar gezeichneten Figuren löst Barkhatov die verwirrende Vielfalt an Handlungssträngen in diesem gerade durch seinen Fragment-Charakter radikal zukunftsweisenden Werk auf. Es entsteht das mehr oder weniger zeitlose Bild eines Landes, dessen ausweglose Situation alles Leben unter bleierner Schwermut begräbt.

Der Dirigent Kirill Karabits sorgte am Premierenabend für beachtliches Niveau: Üppig und weitgehend präzis klangen der von Henryk Plus vorbereitete Chor und der Extrachor des Theaters. Und das Sinfonieorchester Basel spannte einen klangschönen Bogen von der Morgendämmerung der Einleitung zum rabenschwarzen Finale.

«Sprungbrett-Theater»

Mit dieser Produktion zeigten Andreas Beck und seine neue Operndirektorin Laura Berman bereits am ersten Abend, dass sie ihre Schwerpunkte in der Sänger-Förderung und -Entwicklung setzen wollen: Berman sieht das Basler Haus als «Sprungbrett-Theater» und möchte Nachwuchstalenten Auftrittsmöglichkeiten bieten. Dabei arbeitet sie mit dem Casting-Direktor Christian Carlstedt zusammen. An der Premiere kam es denn auch zur Präsentation etlicher junger Sänger, unter denen sich Ulyanov und – trotz Indisposition – Pavel Yankovsky (Schaklowityj) hervortaten.

So gab dieser Abend zu Beginn einer dreiteiligen Eröffnung sogleich vielerlei Indizien dafür, dass in Basel die Weichen für ein auch in Zukunft anregendes Musiktheater gestellt wurden. Und dies trotz schwierigen Bedingungen: Obschon die Proben auf der grossen Bühne mit erneuerter Obermaschinerie und neuer Saalbestuhlung vier Wochen vor der Premiere hatten aufgenommen werden können, gingen die Bauarbeiten für die umfassende Sanierung weiter. Alle mussten zusammenstehen, um das Haus mit dieser anspruchsvollen «Chowanschtschina» so eindrücklich eröffnen zu können.