Tobias Gerber, Neue Zürcher Zeitung (20.10.2015)
Eine Neuproduktion am Theater St. Gallen betrachtet Giuseppe Verdis Shakespeare-Oper «Macbeth» aus einem ungewohnten Blickwinkel
Die Gier nach Macht führt bei Shakespeare wie bei Verdi zu einer Orgie der Gewalt. Der Regisseur Aron Stiehl gewinnt Verdis Oper dennoch eine unerwartet schalkhafte Seite ab.
Eine breite Spur des Blutes hinterlassen Macbeth und seine Lady, die im Griff nach der Macht keine skrupellose Tat scheuen, sich kopfüber in einen Rausch der Vernichtung stürzen und schliesslich – es kann nicht anders sein – selber den Tod finden. Schillernd vereinte William Shakespeare Täter und Opfer in der Figur des Macbeth, Giuseppe Verdi hingegen wirkte in seiner Oper nach Shakespeares Tragödie dieser tragischen Konstitution eher entgegen: Er stärkte die Figur der Lady, machte sie zur Triebkraft des Bösen, dessen Sogkraft der zögernde Gatte erst allmählich, dann aber unumkehrbar erliegt.
In der St. Galler Inszenierung von Aron Stiehl nimmt das Geschehen in einer bürokratisierten Schaltzentrale der Macht seinen Anfang: ein moderner Verwaltungsapparat, von dem aus die kriegerischen Geschicke von König Duncan gesteuert werden. Doch ist die herrschende Ordnung schnell aus den Angeln gehoben, verdrängt von der Ordnung der nackten Gewalt: «Es muss sein. Der höllische Plan muss vollendet werden«, verkündet die Lady. In St. Gallen wurde sie temperamentvoll verkörpert von Mary Elizabeth Williams, die nicht so sehr die nach und nach hervortretende Zerrissenheit der Figur in den Vordergrund stellte, sondern die gewiefte Strategin und charmante Gesellschaftsdame.
Williams' warmer und voluminöser Sopran führte gleichsam richtungsweisend und durchaus verführerisch durch die Handlung. Im verlogenen Wechselspiel zwischen Niedertracht und vorgespiegelter Ahnungslosigkeit fand sie einen differenzierten Tonfall, doch blieb sie darstellerisch als souverän agierende federführende Figur etwas eindimensional, so dass auch ihr nächtlicher Wahn – ein dramaturgisches Problem dieses Stücks – nicht restlos überzeugte.
Aron Stiehls Inszenierung interessierte sich freilich auch nicht primär für die psychologische Dimension, sondern stärker für die handfesten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Auch der Bariton Paolo Gavanelli als Macbeth gefiel vor allem mit seinem stimmkräftigen Hadern mit der ihm zugewiesenen Rolle im gierigen Spiel der Gattin. Der Konflikt blieb dabei aber ein weitgehend äusserlicher.
Im Ganzen betrachtet, waren es auch gar nicht die beiden Hauptrollen, die diesen «Macbeth» entscheidend prägten. Vielmehr war es eine leichte Affinität zum Klamauk in der Inszenierung, die sich etwa in den karnevalesk angehauchten Kostümen von Anthony McDonald zeigte, der auch das Bühnenbild gestaltet hatte. Dieser unterschwellige Zug wirkte dem blutigen Treiben eigensinnig entgegen und verhalf dem Stück zu einer – angesichts des blutrünstigen Treibens – irritierenden Leichtigkeit.
Die kleineren Rollen trugen das Ihrige dazu bei: der Bass Steven Humes als Banquo und der Tenor Derek Taylor als Macduff, beide mit präziser stimmlicher Zeichnung ihrer Figuren sehr überzeugend. Für Höhepunkte aber sorgten die Statisterie und der reich besetzte Chor, dessen Part von Michael Vogel einstudiert wurde: Mit gewitztem szenischem Spiel und absolut überzeugendem musikalischem Auftritt waren sie als Akteure wesentlich in dem Stück. Und nicht zuletzt agierte das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung von Pietro Rizzo sehr lebendig und verlieh den einzelnen Szenen einen klanglich angemessen differenzierten Ton.