«Macbeth» – ein Flüchtlingsdrama an der Grenze

Herbert Büttiker, Der Landbote (20.10.2015)

Macbeth, 17.10.2015, St. Gallen

Machtwahn, Staatsterror und die Flüchtlinge an der Grenze: Shake­speare erzählt eine ewige Geschichte und Giuseppe Verdis «Macbeth» leuchtet in die Abgründe der Zerrüttung, grell und diffus jetzt im Theater St. Gallen.

Der Sehnsuchtsgesang der unter dem babylonischen Joch leidenden Israeliten in der Oper «Nabucco» ist Verdis berühmteste Chornummer, aber nicht die einzige, die dem Elend der Völker gewidmet ist. In seiner zehnten Oper, dem 1847 in Florenz uraufgeführten und für Paris 1865 überarbeiteten Drama nach Shakespeares «Macbeth», wird die Szene der Flüchtlinge an der Grenze Schottlands zum bewegenden Chortableau: «Patria oppressa» – die Klage über die Heimat, die sich in ein Grab verwandelt hat. Depressive Stille, stockende Melodik, fröstelnde Harmonik prägen das Klangbild, das auch an das spätere «Requiem» oder die «Quattro Pezzi sacri» denken lässt.

Ein Land am Abgrund

Dass gleich drei der Deutschschweizer Bühnen in dieser Saison Verdis düsteren «Macbeth» neu herausbringen – St. Gallen machte am Samstag den Anfang, im April werden das Opernhaus Zürich und das Theater Basel folgen –, mag Zufall sein, mit einem hellhörigen Publikum dürften sie in diesen Zeiten rechnen.

Eine spezifische Aktualisierung hat die Geschichte dabei nicht nötig. Historisch ist sie im 11. Jahrhundert verankert, gebunden ist sie an keine Epoche. Wie sich die Machtgier aus dem wilden Hexenreich des Unbewussten in die Realität des Verbrechens schraubt, wie das kinderlose Paar (darauf legte Sigmund Freud den Finger) in seiner pathologischen Beziehung sich anstachelt und das Land und sich selber in den Abgrund treibt – das alles ist im Drama mehr überzeitliche Poesie des Fantastischen als realistische Erzählung.

Im Bunker

Und es ist Musik: Die Fantastik der Hexen, ihre Bizarrerie und ihre geheimnisvolle Schicksalsmacht geben dem Stück seine spezifische Signatur und fordern Chor und Orchester heraus. Was sie unter der musikalischen Leitung von Pietro Rizzi leisten, ist hervorragend in jeder Beziehung und gerade auch hier, wo es sich um ein präzis zugespitztes, wendiges, dynamisch weit gefächertes und rhythmisches Powerplay handelt.

Aron Stiehl (Inszenierung) und Antony McDonald (Bühne und Kostüme) haben sich für ihre Inszenierung von der geheimen Kommandozentrale der britischen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg inspirieren lassen:

Elend und Widerstand

Ein klaustrophobischer Raum in übersteigerter Perspektive ist die Basis für ein theatralisch forciertes, expressives Spiel, durchaus mehr phantastisch als realistisch. Die geschlossene Bunkerwelt, die von Anfang an auf ein Endspiel verweist, zeichnet die Kurve von Aufstieg und Fall Macbeths allerdings reichlich diffus ab: Der Scheitelpunkt mit dem Finale des 2. Aktes – das Bankett zur Krönung mit Macbeth’ «peinlichem» Wahnsinnsausbruch – zum Beispiel wäre mehr als eine Party des Büropersonals mit Fasnachtshütchen auf dem Kopf. Zu begrenzt ist da die Perspektive auf das Land, das zur Mördergrube geworden ist, wie die anwesende Gesellschaft entsetzt feststellt, zu begrenzt auch der epische Horizont von Elend, Widerstand und Schlachtfeld, sei es in Schottland oder sonstwo.

Die Trichterform der Bühne gibt den Figuren und auch den Stimmen) Grösse und steigert die Energie des mörderischen Kammerspiels. Packende Expressivität auch an der Grenze der Übertreibung kennzeichnet den Auftritt der Protagonisten.

Paolo Gavanellis Stärke liegt aber gerade auch in der dramatischen Wucht des vollen Körpereinsatzes für Macbeth, das Format für die intime Kantilene des getriebenen und verstörten Machtmenschen gewinnt er aber berührend in der finalen Arie, in der Macbeth seine triste Lebensbilanz zieht.

Mit Powerstimme

Mit ihrer Powerstimme macht Mary Elizabeth Williams die Lady effektvoll zur dominanten Figur, als die sie Verdi in Szene setzt, fulminant ihr erster Auftritt und etwas penetrant die Neurotik der Nachtwandlerszene zum «sotto voce» der Musik.

Steven Humes hat es als Banquo in der slapstickartig angelegten Mordszene nicht leicht, mit dem Pathos seines kernigen Basses zu fesseln, während der Tenor Derek Taylor mit der Arie des Macduff im Drama einen starken Akzent setzt.