Christoph Ballmer, Neue Zürcher Zeitung (28.11.2006)
Siebzig Kilometer liegen die beiden Häuser auseinander. Beide stehen sie unter neuer Intendanz. Beide sind sie ziemlich fulminant in die Opernsaison gestartet. Und beide haben sie sich dazu entschlossen, an ein und demselben Wochenende Verdis «Don Carlos» auf den Premierenplan zu setzen. Ein Mangel an grenzüberschreitender Koordination? Eine ärgerliche Dublette mit Bestimmtheit nicht! Die Auseinandersetzung mit Verdis meisterhafter Schiller-Adaptation hätte unterschiedlicher, die Gegensätzlichkeit der sich eröffnenden Perspektiven spannungsvoller nicht ausfallen können. Allein die gewählten Fassungen - in Freiburg wird die vieraktige italienische, in Basel eine fünfaktige Mischfassung in französischer Sprache gespielt - sorgen für veränderte Konstellationen. Kommt dazu, dass zwischen den beiden Regiekonzepten Welten liegen.
Beklemmende Innensicht
Barbara Beyer hat für ihre Freiburger Inszenierung den Stoff auf seinen zwischenmenschlichen Gehalt hin befragt. Die Tragödie spielt von Anfang bis Schluss im engen Rahmen der grossbürgerlichen Familie. Alleiniger Schauplatz ist der Salon, von Oliver Brendel mit Designer-Fauteuils und Ständerlampen karg möbliert, anfangs weit und tief und in herrschaftliches Purpurrot getüncht, später schwarz und gefängnisartig eng. Arroganz und tödliche Resignation liegen in der Gefühlswelt der Protagonisten nahe beieinander. Der König lacht zynisch, wenn Posa sein erschütterndes Zeugnis über die blutigen Vorgänge in Flandern ablegt. Die Eboli bricht in höhnisches Gelächter aus, wenn sie - als Hure beschuldigt - in Ohnmacht fallen sollte. Und Carlos, der unangepasste, langhaarig-blasse Königssohn in Trainerjacke und Turnschuhen, hadert von Beginn weg mit dem Schicksal. Nicht die unerfüllte Liebe zur Stiefmutter ist sein Problem, sondern der Zwang zur Konvention. Eine Videoeinspielung zeigt ihn zur Ouverture sprungbereit auf einer Autobahnbrücke. Doch Selbstmord begeht schliesslich nicht er, sondern sein Freund Posa. Die Gesellschaft bricht nur punktuell in die triste Familiensphäre ein. So bleibt die Autodafé-Szene - als wüst ausartendes Fressgelage dargestellt - ein Glitzerwerk im Hintergrund. Eine durch und durch beklemmende Innensicht.
Ganz anders Calixto Bieito. Nachdem sein erster Versuch einer Realisierung des Stoffs am Nationaltheater Mannheim am erbitterten Widerstand des Ensembles gescheitert ist, zeigt der für seine kompromisslosen Gewalt- und Sexorgien gefürchtete Katalane in Basel höchst eindringlich, welch erschütterndes Gesellschaftsbild aus dem Werk zu lesen ist. Dass er sich ausgiebig der Mittel surrealer Überhöhung und Brechung bedient, dass er weder Blut noch nackte Körper scheut, dass er die Dichotomien von Schwarz und Weiss, von Gut und Böse, von Täter und Opfer, von Engel und Teufel zu einem orgiastischen Vexierbild bindet, hat beim Premierenpublikum bereits zur Pause erheblichen Protest ausgelöst. Ist es die brutale Wirklichkeit, wenn Elisabeth der Eboli in blindem Wahn die Augen aussticht und diese genussvoll verspeist? Ist es ein böser Traum, wenn Philipp seine Frau vergewaltigt und sich anschliessend von der Eboli baden und trösten lässt, wenn er seine Bonsai-Bäumchen auf einem Acker pflanzt, aus dem die verscharrten Leichen ragen?
Bei Bieito ist manches nicht eindeutig lesbar und die Bilderflut überreich. Doch gerade darin liegt - im besten Sinne des Wortes - die phantastische Kraft seiner düsteren Sicht. Vom Fontainebleau-Akt, der in einem modernen spanischen Bahnhof spielt, wo Carlos von einem schwarzen Engel in den Tod gerissen wird, während der blutige Anschlag von Atocha über die Bildschirme flimmert, über die schockierend brutale Hinrichtungsszenerie, derweil Philipp in blindem Autismus seine Einsamkeit beklagt, bis hin zum apokalyptischen Ende, das den Infanten aus dem Inferno eines Autocrashs erstehen lässt. Dazwischen - von Ariane Isabell Unfried und Rifail Ajdarpasic kongenial ausgestattet und von Anna Eiermann in eindrückliche Kostüme gehüllt - unzählige Visionen und Träume, denen man in der Realität lieber nie begegnen möchte. Ein heiss umstrittener Theaterabend, der in seiner Intensität und Drastik noch lange nachwirken wird.
Kurzweiliges Musiktheater
Und musikalisch? Auch da gilt es durchaus Unterschiedliches zu berichten. Das Freiburger Ensemble agierte am Premierenabend ziemlich heterogen. Innerhalb der männlichen Partien vermochte einzig Bon-Gang Gu als Posa zu überzeugen. Und dem Philharmonischen Orchester Freiburg - von Patrik Ringborg zu einer akzentuierten Leistung getrieben - fehlte es merklich an klanglicher Geschlossenheit und artikulatorischer Präzision. Ganz anders die Basler Aufführung, die musikalisch wesentlich ausgefeilter daherkam. Das Basler Sinfonieorchester bot unter dem jungen Balázs Kocsár eine hinreissend differenzierte Leistung. Einmal mehr bestechend in Form zeigte sich der Basler Theaterchor. Und darstellerisch wie sängerisch starkes Profil wiesen auch sämtliche Hauptpartien auf. Keith Ikaia-Purdy gab einen sehr glaubhaften Carlos, Marian Pop einen noblen Posa, und Stefan Kocán als König Philipp wusste jene unerbittliche Strenge in die Stimme zu legen, die auch das Regiekonzept von ihm fordert. Trotz Indisposition untadelig und mit wunderbar feinen Zwischentönen gestaltete Mardi Byers die Partie der Elisabeth. Und Leandra Overmanns Eboli war von überwältigender Bühnenpräsenz. Selten kamen einem vier Stunden Musiktheater derart kurz vor.