Einer gegen alle

Bruno Rauch, Aargauer Zeitung (13.12.2005)

Peter Grimes, 11.12.2005, Zürich

Opernhaus Zürich Benjamin Brittens «Peter Grimes»

Die Weite des Meers, die Gezeiten und Stürme sowie das Ausgeliefert-Sein der Menschen gegenüber den Naturgewalten sind Themen in Benjamin Brittens Opernerstling «Peter Grimes», uraufgeführt 1945 in London. Sie bildeten das visuelle Zentrum der denkwürdigen Zürcher Produktion von 1989. Ein anderes, wichtiges Element sind die überschaubare Enge und die soziale Kontrolle der Lebensgemeinschaft eines Hafenstädtchens. Sie werden zum optischen Angelpunkt der jetzigen Produktion, für die Regisseur David Pountney und Bühnenbildner Robert Israel zeichnen. Über die relativ düstere Bühne führt, gestützt von kantigen Pfeilern, auf halber Höhe ein filigraner Steg: Hauptgasse eines Fischerdorfs irgendwo an der englischen Ostküste. Darauf sowie an den Stelen befinden sich zahlreiche Sitzplätze für dessen Bewohner, die so das Geschehen allzeit beobachten können, während sie ihren Gewerben nachgehen.

Den Bühnenhintergrund bilden Grossaufnahmen von Gestirnen, wohl in Anspielung auf deren Bedeutung für die Gezeiten und zur Orientierung auf hoher See. Das alles ist wohlüberlegt und im atmosphärischen Lichtzauber von Jürgen Hoffmann eindrücklich anzusehen. Allerdings lenkt es vom eigentlichen Geschehen ab. So müssen sich denn die Protagonisten auf einer inszenatorisch und optisch arg befrachteten Bühne behaupten, was dank sorgfältiger Personenführung dennoch gelingt. Auch der famos disponierte Chor (Leitung: Ernst Raffelsberger) und die zahlreichen Nebenchargen - in malerischem Grau, in welches die «Eber»-Wirtin und ihre beiden nuttigen Nichten die einzigen Farbpunkte setzen - bewegen sich als Individuen und nicht als amorphes Kollektiv.

Wenn Grimes als Gekreuzigter an die Seilwinde lehnt, wenn er sich als Schmerzensmann den Mastbaum wie ein Kreuz auf die Schulter lädt, wenn Ellen als Pietà den toten Fischerjungen auf ihren Schoss bettet, so mag dies vielleicht etwas plakativ sein - der Gesamtwirkung der so einfachen wie beklemmenden Story tut es keinen Abbruch. Zu verdanken ist dies unter anderem der sängerischen und darstellerischen Leis-tung Christopher Ventris’ als Grimes. Mit kernig-metallischem und doch geschmeidigem Tenor verleiht er der Titelfigur abgründige und berührende Vielschichtigkeit. Emily Magee ist eine anrührende, unsentimentale Lehrerin: Ihr verzweifelter Verzicht auf eine mögliche Beziehung zum verhärteten Peter wird zu einem berührenden Kernstück des Abends. Liliana Nikiteanu als Wirtin Auntie mit ihren zwei Animierdamen (Sandra Trattnigg und Liuba Chuchrowa) sorgen für komödiantische Akzente. Neben weiteren exzellenten Sängern leistet das Opernorchester Hervorragendes. Franz Welser-Möst lässt die farben- und klangprächtige Musik mächtig aufrauschen, um sie wo nötig in subtiles Piano zurückzunehmen. Nichts wird pastos eingeebnet, Kanten und Rauheiten wahren Profil und fügen sich doch zu einem organischen Ganzen - die atemlose Stille vor dem enthusiastischen Schlussapplaus war bezeichnend.