Marianne Mühlemann, Der Bund (26.10.2015)
Intendant Stephan Märki gibt im Stadttheater seinen Einstand als Regisseur und reüssiert glanzvoll: Richard Wagners «Lohengrin» überzeugt als stimmiges Psychogramm einer ebenso unheimlichen wie unmöglichen Liebe.
So viel Magie, so viel Erwartungsspannung lässt sich in ein musikalisches Vorspiel zaubern: Der geschlossene Vorhang ist ein unheilvoller Himmel, aus dem ein Auge blickt. Es ist ein prophetisches Omen. Was da kommt, wird nicht gut enden. Das Berner Symphonieorchester weiss die Ahnung zu materialisieren. Das irisierende A-Dur, das Mario Venzago aus dem gross besetzten Berner Symphonieorchesters destilliert, ist nicht von dieser Welt. So soll es sein, das Gralsmotiv. Als gebündelter Strahl fällt der Klang hinein in die gespenstische Dämmerung der Bühne und bricht sie auf.
Listige Lady Machiavelli
Man erkennt vage Silhouetten, die sich bewegen. Hier eine blonde Lichtgestalt, es muss Elsa sein. Dort ihr Gegenstück, eine Frau in Rot. Ortrud? Dazwischen Männer, ein Kind. Die Gestalten schreiten wie durch Wasser, langsam, als bremste jemand den Fluss der Zeit. Und lautlos, wie später die Blätter vom Baum fallen oder die Vollmondnacht kommt und mit ihr das Unglück, so öffnet sich der Boden und verschluckt den Knaben spurlos.
Es ist Gottfried, Elsas Bruder. Sein seltsames Verschwinden wird den Anstoss für die mysteriöse Geschichte geben, die Richard Wagner hier aufrollt. Es geht um Schuld, Liebe, Glaube, Eifersucht, Macht. Um universelle Themen, die von einer grandiosen Musik zusammengehalten werden. Die wiederkehrenden Leitmotive und eingängigen Instrumentalfarben, welche die Dramatik unterstreichen, macht im Handumdrehen alle zu Komplizen, die auf, vor und hinter der Bühne sind – inklusive Publikum. Auch wenn man bis dahin kein Wagner-Fan war, dem betörenden Sog kann man sich nicht entziehen.
Und jetzt: Die Frau in Rot übernimmt. Ihre gespannte physische Präsenz und ihre Stimme sind bühnenfüllend. Es ist Ortrud (hervorragend: Claude Eichenberger), eine hinreissend listige «Lady Machiavelli». Die subtile Intrigantin verspritzt ihr Gift in homöopathischen Dosen, doch mit sicherer Wirkung. Sie wirft der etwas naiven Elsa von Brabant (Mary Mills) den Brudermord vor. Die Schuld soll Elsa aus dem Weg räumen, damit für sie, Ortrud, und ihren Gatten Telramund (Jordan Shanahan) der Weg an die Macht frei wird. Ortrud zieht die Fäden in diesem Drama. Und ihre Rechnung geht auf. Weil handfeste Beweise fehlen, verlangt König Heinrich (Pavel Shmulevich) ein Gottesgericht, das entscheiden soll. Derweil wäscht er wie einst Pilatus seine Hände in Unschuld.
Er kommt ohne weissen Schwan
Doch wer vertritt Elsa im Zweikampf? Wer tritt gegen den Herausforderer Telramund an? Es kann nur einer sein. Ein Held. Lohengrin. Er kommt aus heiterem Himmel – und ohne weissen Schwan. Den hat diese Produktion auch nicht nötig. Dafür ist das Firmament wasserblau wie ein Satinstoff und übersät von weissen Federwölkchen; sie werden im dritten Aufzug – neckische Pointe! – auch auf den Gewändern des Brautchors zu sehen sein.
Die verbotene Frage
Lohengrin (vielschichtig: Daniel Frank) hat ein Geheimnis. Niemand darf wissen, woher er kommt und wie sein Name ist. Mitnichten sind Namen bloss Schall und Rauch! Wagner belehrt uns hier eines besseren.
Lohengrin muss unerkannt bleiben, sonst bedeutet das sein Verschwinden, und er verliert alles, die Aussicht auf ein freies, bürgerliches Leben ebenso wie die Liebe. Er schlägt Telramund, ohne ihn zu töten; vorerst. Die Liebe zu Elsa entbrennt schneller, als Lohengrin denken kann. Innig (auch musikalisch) ist die Zweisamkeit der beiden, wo er ihr die Liebe gesteht und vom fernen Land erzählt, das er für sie verlassen hat. Doch Ortruds Gift wirkt. Elsas Seele wird zerfressen von Zweifeln. Mary Mills als Elisa zeigt die wachsende innere Spannung mit differenziertem, biegsamem Gesang. Emotionell wirkt sie zwar eher passiv, wie sie in der stilisierten Hochzeit dahinschreitet. Es ist ein Ritual, das Regisseur Stefan Märki auf einem Podest in Kreuzform inszeniert. Der Zuschauer sieht längst, was die zwei Liebenden nicht wahrhaben wollen. Sie werden nie zusammenkommen. Ortrud und ihr Gemahl ziehen sie an ihren weissen Schleppen wie Marionetten immer wieder auseinander. So erstickt Elsas loderndes Liebesfeuer, und es wuchert in ihrem Denken ein Wahn, der sie lähmt. Und so stellt sie Lohengrin, dem Sohn des mächtigen Gralshüters Parzival, die verbotene Frage.
Eine Herzensangelegenheit
Wagners erstes durchkomponiertes Musikdrama ist musikalisch eine grosse Kiste. Kein Wunder, hat man in Bern von dem Werk, das 1850 in Weimar unter der Leitung von Franz Liszt uraufgeführt wurde, 61 Jahre lang die Finger gelassen. Dass für Stephan Märki der «Lohengrin» eine Herzensangelegenheit ist, wird in der aktuellen Inszenierung deutlich.
Der Intendant von Konzert Theater Bern, der mit dieser Oper am Stadttheater als Regisseur seinen Einstand gibt, hat es nicht nötig, sich als origineller Erneuerer des Regietheaters zu gebärden. Wohltuend klar, massvoll und bis ins Detail stimmig ist sein Konzept. Märki vertraut der inneren Kraft der Musik und schafft mit einer eher ruhigen Inszenierung den emotionalen Raum, in dem sich die Sängerinnen und Sänger entfalten können. Gekonnt setzt er auf Abstraktion und Reduktion. Sie zeigt sich auch in den eindrücklichen Bühnenbildern von Olga Ventosa Quintana und den Auftritten des Chors (Choreografie: Chris Comtesse). Die Farbpalette oszilliert grandios zwischen Licht und Schatten, Schwarz, Weiss, Grau und Blautönen. Die szenische Magie wird vom Berner Symphonieorchester mit klanglicher Raffinesse mitgetragen und durch bewusste Tempoveränderungen in der Wirkung gesteigert.
Die Reduktion bedeutet nur Gewinn. In dieser Inszenierung braucht es kein Horn, kein Schwert, keinen Ring wie bei Wagner, auch wenn diese Insignien Lohengrins besungen werden. Auch Ratten wie in Bayreuth kommen keine vor, obwohl die schwarzen Männchen, die Elsa im Traum auf allen vieren bedrängen, ein wenig daran erinnern. Und dass aus diesem «Lohengrin» kein Wilder Western wurde, wie Märki offenbar in einer frühen Planungsphase vorgeschwebt hatte, muss niemand bedauern. Er scheint alles richtig gemacht zu haben, das Publikum bezeugt das mit dem lang anhaltenden Schlussapplaus.
Surreale Magritte-Klone
Auch die Besetzung kommt gut an: Daniel Frank gibt einen bodenständigen Lohengrin, einen Helden aus Fleisch und Blut. Man spürt die Ambivalenz, mit der er seinen Willen und den seines Vaters trägt; gesanglich zeigt er viele Facetten. Die romantische Zweisamkeit mit Elsa in einem Meer von Lichtern weiss das Orchester vortrefflich zu grundieren. Jordan Shanahan gelingt es, Telramunds gespaltene Persönlichkeit als Handlanger von Ortrud und aufmüpfiger Rebell sicht- und vor allem hörbar zu machen. Expressivität und Grösse zeigt auch der gut vorbereitete Chor (Zsolt Czetner). Märki hat ihn perfekt ins Geschehen eingebunden.
Die Chormitglieder sind anonyme Gestalten, sie tragen Mantel, Schirm und schwarzen Hut und sehen aus wie Klone des Surrealisten René Magritte. Das inspiriert, sie können alles sein und alles bedeuten. Wie diese Namenlosen ihr Gesicht verbergen, sich mit den Schirmen schützend vor Elsa stellen oder kollektiv singend aus dem Lot kippen, wenn die Idylle Risse bekommt, ist unheimlich wie das Spiel, das in der Tragödie endet.
Oder im Triumph: Nach fünf Stunden und zwei Pausen fällt der Vorhang, und man staunt, dass sich die verstrichene Zeit so kurz angefühlt hat. Bis auf den Abgang des Lohengrin – der sich im Hintergrund zögerlich wegschleicht – möchte man keine Minute dieses «Lohengrin» missen, der in seiner musikalischen und szenischen Umsetzung gekonnt an Berns Verhältnisse adaptiert wurde.
Stephan Märki hat viel gewagt und gewonnen. Nach dieser gefeierten Spielzeiteröffnung möchte man ihm als Regisseur wieder begegnen.